Journal
Das Äquilibrium als Modell und mögliche Daseinsmetapher
Eckart Goebel zum interdisziplinären Forschungsfeld anlässlich der Tagung Latente Spannungen - Figuren des Äquilibriums
Unterschiedliche Modelle des Ausgleichens und Balancierens, aber auch die Artikulation einer tiefsitzenden Angst vor dem Verlust des Gleichgewichts von der Antike bis in die Gegenwart zählen zu den Basiselementen kultureller Erfahrung und deren Reflexion. Das alte, von der thebanischen Sphinx dem König Ödipus gestellte Rätsel über jenes seltsame Tier, das auf vier, auf zwei und zuletzt auf drei Beinen geht, kann auch als bündige Parabel über Gewinn und finalen Verlust menschlichen Gleichgewichts gelten. Die aristotelische Ethik der ›Mitte‹, Eukrasie, Diätetik, Prästabilierte Harmonie, balance of powers und ausgleichende, poetische Gerechtigkeit, seelisches Gleichgewicht, gelungene Proportion, das ausgewogene Verhältnis zwischen Reden und Schweigen, die Position des Objekts im Raum der Kunst, die Theorien der Kompensation – mit diesen und anderen Formeln und Titeln sind nur einige der prominenten Lehren benannt, die eine konstitutive Idee des Äquilibriums implizieren.
Ein kulturwissenschaftliches Desiderat
Die Denkfigur der Balance, der mit ihr eng assoziierte ›Gleichgewichtssinn‹ sowie entsprechende kulturelle Praktiken verbinden die Felder der Theologie, Politik, Geschichte, Recht, Ökonomie, Naturphilosophie, Medizin, Anthropologie, Soziologie, Sportwissenschaft, Medientheorie, Psychologie, Philosophie, Kunst, Ethik und Ästhetik. Dieser Blick auf das reich aufgefächerte Themenspektrum Äquilibrium macht deutlich, dass die Erforschung dieses Themas sowie die Analyse des seine vielfältigen Aspekte miteinander verbindenden Interdiskurses ertragreich nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu leisten ist. Die Rede vom vollendeten Gleichgewicht bzw. die Rede vom gelungenen oder zu erstrebenden Ausgleich betrifft jedoch keineswegs nur diverse Varianten des ›Klassischen‹, Ideale von Gerechtigkeit oder Visionen über das von Max Scheler vorhergesagte »Weltalter des Ausgleichs«.
Die Rede von der Balance bzw. die diskursive Integrationsleistung von Balance-Konzepten erschöpft sich nicht darin, als listig verschwiegener Transporteur klassizistische Ideale in der Gegenwart zu lancieren. Das Thema reicht weit und bestimmend in unseren Alltag hinein. Nach der Bedeutung von ›Äquilibrium‹ zu fragen, ist keine antiquarische Betätigung, sondern immer auch ein Blick auf die Gegenwart:
Wie die ubiquitäre Rede vom ökologischen Gleichgewicht oder der immer fraglicher gewordenen Work-Life-Balance, vom demokratischen Interessenausgleich, vom ökonomischen Ausgleich etc. zeigt, stehen Praktiken und Modelle des Balancierens im Zentrum auch zeitgenössischer Problemlagen und den Versuchen zu deren Bewältigung – bis hin zur ›Körperarbeit‹ sedentärer Angestellter bei Yoga und Thai-Chi, die eine Balance zwischen Körper und Seele restituieren sollen. Der aktuelle Slogan einer bekannten deutschen Krankenkasse lautet: »Lebe Balance!« Die Fragestellung nach der Rolle des Interdiskurses ›Balance‹ im Prozess kultureller Selbstverständigung könnte, um nur einen Vorschlag mit Aktualitätsindex zu formulieren, etwa auch die Hypothese prüfen, dass die international intensiv diskutierte Idee der Nachhaltigkeit – sustainability – den Versuch darstellt, stabile Balancen und Entwicklung ebenso paradox wie produktiv zu integrieren, also auch ein alternatives Modell von Geschichte impliziert, das ohne die Erblasten der Geschichtsphilosophie auszukommen versucht. Die bisher keineswegs begriffs- und ideengeschichtlich umfassend rekonstruierte Rede von der Balance gewinnt von Aristoteles bis zur AOK in den unterschiedlichsten Kontexten rhetorische Überzeugungskraft immer wieder auch daraus, dass die Evokation der Balance zur Reklamation von Evidenz auf den physischen Gleichgewichtssinn, i. e. auf ein ›Gespür‹ referiert, dessen Verletzung Unwohlsein, Ekel und Angst vor dem Sturz ins Bodenlose erzeugt. Die Idee des Äquilibriums wird in diesem Kontext beinahe bis zur Identität an die Idee des Guten und auch des Geglückten herangerückt.
Aus der Perspektive kulturwissenschaftlicher Forschung ist es angesichts dieser zu intensivem Nachdenken anregenden Sachlage erstaunlich, dass – so weit wir sehen – die Rede vom Äquilibrium und die Sorge um dessen drohenden Verlust bisher keine umfassenden interdisziplinären empirischen Studien – die Sportwissenschaft etwa kennt Bewegungslehre und Bewegungswissenschaft – und keine darauf aufbauende theoretische Reflexion auf sich gezogen haben. In den Lexika zur Philosophie, Rhetorik und Ästhetik findet sich kein einschlägiges Lemma. Der Omnipräsenz von Ausgleichskonzepten und der Sorge um den Verlust der Balance steht mithin das Fehlen ausgreifender kultur-, diskurs- und medienwissenschaftlicher Arbeiten zum Thema gegenüber. Mit Joel Kayes exzellentem Buch A History of Balance von 2014 liegt nunmehr zwar ein auch konzeptionell innovativer Beitrag vor, der sich indes auf das Europa der Zeit von 1250 bis 1375 beschränkt und daher nicht nur die Antike unbearbeitet lässt, sondern explizit die Rekonstruktion der Geschichte des Äquilibriums seit dem Mittelalter als Desiderat der Forschung markiert. Sehr anregend ist Kayes Studie gleichwohl insofern, als er in den theoretischen Vorüberlegungen vorschlägt, Balance nicht als eine ›Idee‹ oder als ein ›Konzept‹ zu begreifen, sondern als ein flexibles Modell zu denken.
Das Äquilibrium als mögliche Daseinsmetapher
Hans Blumenberg hat im Anhang zur Studie über Schiffbruch mit Zuschauer (1979) unter dem Titel »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit« die Idee der Daseinsmetapher in den philosophischen Diskurs der Moderne eingeführt, die solche Metaphern terminologisch erfasst, die den Vollzug menschlichen Lebens insgesamt bebildern, um diesen Vollzug des latent vom Sinnlosigkeitsverdacht heimgesuchten Lebens ›verständlicher‹ bzw. ›sinnvoller‹ werden zu lassen. Die Rede von der ›Lebensreise‹, die dem individuellen Leben ein ›Ziel‹ und dergestalt ›Sinn‹ zuweist, wäre etwa exemplarisch für eine solche Daseinsmetapher.
Womöglich ist die Hypothese zulässig, dass es sich beim Äquilibrium ebenfalls um eine Daseinsmetapher im Sinne Blumenbergs handelt, die nicht nur an der Schnittstelle des literarischen und des philosophischen Diskurses, sondern eben auch, als ›Sinn für Gleichgewicht‹, an der Schnittstelle somatischer Erfahrung und Denkarbeit steht: Taumel, Schwindel, Absturz, Wirbel, Strudel, Mahlstrom – immer wieder werden die Angstphantasien der Philosophie und der Literatur von der Antike bis ins 20. Jahrhundert durch Metaphern für drohenden Kontrollverlust bebildert, die durchweg ins Register eines zumindest zeitweiligen Verlusts des körperlichen Gleichgewichts gehören.
Wohl keineswegs zufällig identifizieren Freud und Breuer daher bereits 1895 in den Studien zur Hysterie das »seelische Gleichgewicht« als das Telos einer seinerzeit revolutionären Form der Psychotherapie. Umgekehrt integriert z. B. der Inbegriff von Schönheit (in) der Bewegung, den das 18. Jahrhundert formuliert – Grazie – die theologische Sphäre – Gnade von oben (grace, grâce) –, vollendete körperliche Proportion/ Bewegung mit moralischer Perfektion. Um Balance jedoch als Daseinsmetapher beschreiben zu können, ist die ideengeschichtliche bzw. metaphorologische Arbeit auf den intensiven Austausch zwischen unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Fächern angewiesen, um die Konturen einer historischen Semantik von Balance bzw. Äquilibrium zu zeichnen.
Ein Blick auf das Drama kann diese kleine Sequenz von Beispielen abschließen: In seinem wunderbaren Buch über Die Komödie (1992) schreibt Bernhard Greiner, dass sich der hohe Rang der Frösche des Aristophanes auch daran zeige, dass »die beiden Konstituenten der Komödie, das dionysisch-orgiastische Moment und das Moment der dramatischen Formung geglückt ausbalanciert werden und zugleich die Bedingung der Möglichkeit dieser Balance reflektiert wird.« (S. 40) Das Klassische, Sinnvolle, Geglückte, die poetische Selbstreflexion und das ethisch Vorbildliche treten hier im Zeichen der Balance zur Einheit zusammen. Auf der anderen Seite ist aber natürlich von Aristophanes bis heute der Verlust des Gleichgewichts ein Vorfall, der zum Lachen reizt. Das Stolpern, das Fallen, der Sturz ist schrecklich, aber auch der Beginn der Erkenntnis und die Aufforderung, das Gleichgewicht womöglich lachend immer neu wiederzugewinnen, insofern nach Arthur Schopenhauer das Gehen auf zwei Beinen ohnehin nichts anderes ist als ein aufgeschobener, gerade noch einmal vermiedener Sturz. Der Schopenhauer-Leser Samuel Beckett hat diese Beobachtung 1983 zum bekannten Aphorismus ausgearbeitet:
“Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.”
Eine wohlausgewogene, gut ausbalancierte Sequenz von jeweils nur aus exakt zwei Wörtern gebildeten Sätzen, ein ermutigendes Motto.
von Eckart Goebel
anlässlich der interdisziplinären Tagung LATENTE SPANNUNGEN – FIGUREN DES ÄQUILIBRIUMS im Rahmen des Schwerpunktthemas » Latenz in den Künsten« im Warburg-Haus, 22.-24.6.2017
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Latenz in den Künsten