Journal
Hölderlin und die Astronomie der »exzentrischen Bahn«
Aby-Warburg-Stiftungsprofessor Alexander Honold über die Denkfigur der Excentrizität, die Bedeutung der Himmelsläufe für die Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert und Hölderlins Rezeption des astronomischen Denkens
Revolution und Kontingenz: von Kepler zu Hyperion
Friedrich Hölderlin formulierte seinen geschichtlichen Standpunkt in poetischen Nachgestaltungen des Sternenhimmels und der Bewegungsgesetze der Astronomie. Am Ausgangspunkt steht, in den frühen Tübinger Hymnen, die Proklamation eines auf autonome Vernunft, kritische Willensbildung und gesellschaftliche Emanzipation gegründeten Fortschrittsideals, inspiriert durch Rousseau, Schiller und die Ereignisse von 1789. So wird in der 1792 entstandenen zweiten Hymne an die Freiheit der Anbruch eines neuen Zeitalters mit einem astronomischen Vorgang korreliert, der Ablösung der Nachtgestirne durch den strahlenden Sonnenlauf.
Wenn ihr Haupt die blaichen Sterne neigen,
Stralt Hyperion im Heldenlauf –
Modert, Knechte! freie Tage steigen
Lächelnd über euren Gräbern auf.
(Hymne an die Freiheit, v. 93-96; MHA I, 139)[i]
Hyperion, der Sohn des Sonnengottes Helios, wird hier synekdochisch mit dem Tagesgestirn selbst gleichgesetzt; Apoll, Helios und Hyperion fungieren für Hölderlin in dieser frühen Phase als gleichermaßen auf die Figur des Sonnenlaufs beziehbare mythische Akteure. Der Anbruch des Tages, mit dem die bleichen Nachtgestalten und ebenso die Verhältnisse der Knechtschaft weichen: Dieses astronomische Kleid der zeittypischen Revolutionsbegeisterung des Tübinger Studenten unterstreicht die supponierte Zwangsläufigkeit der auch für Südwestdeutschland als unmittelbar bevorstehend erwarteten politischen Veränderungen. Wenn nun gerade der Titan Hyperion in der Folgezeit der poetischen Entwicklung Hölderlins zu einem singulären Protagonisten individualisiert wird, so ist damit zugleich eine Revision der astronomischen Bildlichkeit und auch des von ihr modellhaft artikulierten Geschichtsverständnisses verbunden. Hyperion wird zu einer doppelt codierten Größe, als mythischer Heros wie als zeitgenössischer Romanheld, der mit seinem Projekt eines neohellenischen Emanzipationskrieges realhistorische Ereignisse der Jahre 1770ff. in das Handlungsgerüst des ebenfalls Hyperion überschriebenen Briefromans überführt. In einer Fußnote innerhalb des Romans weist der Autor eigens darauf hin, daß die geschilderten Kämpfe zwischen neugriechischen Unabhängigkeitskämpfern und ihren russischen Verbündeten gegen die Truppen des osmanischen Reiches realen und datierbaren Vorgängen folgen, die sich – eine gleichsam privat-mythische Koinzidenz – in Hölderlins Geburtsjahr 1770 zugetragen hatten.
Die wichtigste Veränderung des Hyperion gegenüber den zukunftsgewissen Hymnen der frühen 1790er Jahre liegt in der Einbeziehung des Faktors historischer Kontingenz; die schmerzvolle Einsicht, daß sich gesellschaftlicher Fortschritt stets nur aus widerstreitenden Kräften heraus entwickeln könne, ist in Hölderlins Briefroman und seinen Vorstufen verbunden mit der Berufung auf ein ballistisches Modell, das in der Geschichte der neuzeitlichen Astronomie von entscheidender Bedeutung war ― die Denkfigur der elliptischen respektive „exzentrischen“ Bahn. „Man wird vieleicht sich ärgern an diesem Hyperion, an seinen Widersprüchen, seinen Verirrungen […]. Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn, und es ist kein anderer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung.“ (MHA I, 558)
Die Formel von der „exzentrischen Bahn“, die Hölderlin in den Vorreden zweier Hyperion-Entwürfe entwickelt, eröffnet eine in mehrfacher Hinsicht auf die zeitgenössische Astronomie bezogene Reflexion über geradlinige, mithin: kausal oder teleologisch determinierte Prozesse und deren Ablenkung zur gekrümmten respektive exzentrischen Bahn. Anders als die transzendentalen Kategorien Fortschritt oder Vorsehung ist das Konzept des Weges oder der Bahn empiriehaltig und „rechnet mit Irrungen und Rückschlägen“.[ii] Notwendig „exzentrisch“ ist das revolutionäre Projekt der Selbstbegründung des Menschen, denn es vollzieht sich im Modus des Verlusts anthropozentrischer Gewißheiten. Hölderlin transponiert ein astronomisches Paradigma auf historische und subjektive Geschicke. Diese weisen die Merkmale von Kontingenz, auch von „Verirrungen“ auf, ihre Bahn ist vorgezeichnet und frei zugleich.
Erst durch die Aufschlüsselung ihres wissensgeschichtlichen Kontextes läßt sich Hölderlins Denkfigur der exzentrischen Bahn in ihrer strukturgenerierenden Funktion für den Hyperion wie auch für das lyrische Werk Hölderlins nachzeichnen. Bislang als „metaphorisch“ eingestufte Bildbereiche in Hölderlins Prosa und Lyrik, so die methodische Prämisse dieser Interpretation, sind als Modellierungen und Figurationen in ihrer Materialität durchaus ernst zu nehmen und aus ihren jeweiligen diskursiven Kontexten zu rekonstruieren. Auch trägt das astronomische Verständnis der „exzentrischen Bahn“ dazu bei, die historische Semantik des kulturellen Schlüsselkonzepts der „Revolution“ zu verdeutlichen, der sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einer begriffsgeschichtlich wohl singulären Überlappungsphase schon auf politische Umwälzung und noch auf die Geometrie einer Kreis- bzw. Ellipsenbahn erstreckt.[iii] Vor dem Hintergrund dieser semantischen Überlagerung von astronomischer und politischer „Revolution“ erscheint um so bemerkenswerter, daß unter den intellektuellen Protagonisten der französischen Ereignisse die Astronomen besonders zahlreich und in führenden Positionen vertreten waren[iv].
Naturwissen und Geschichtsdenken gehen persönliche und zugleich sachlich begründete Koalitionen ein derart, daß die Bestimmung von gesetzmäßigen Vorgängen innerhalb des historischen Prozesses gleichsam am astronomischen Modell erproben kann, wie mit exzentrischen Ausnahme- und Sonderfällen zu verfahren sei. Als zyklologische Wissenschaft par excellence entdeckt die Astronomie des 18. Jahrhunderts die Herausforderung des Inkommensurablen: der je besonderen, unwiederholbaren Konstellationen, vor allem aber der in ihrer extremen Exzentrizität scheinbar keinerlei Regularität unterworfenen Bahn der Kometen. Hölderlins Hyperion demonstriert in einzigartiger Weise, wie der Gegensatz von Kreislauf und Momentum (Kyklos und Kairos) in ein synchrones Spannungsverhältnis gebracht und dieses wiederum in seinen gesellschaftlichen und geschichtsphilosophischen Konsequenzen durchleuchtet werden kann.
Das geschichtsphilosophische Denken des späten 18. Jahrhunderts wies geometrischen Figuren und Modellen eine herausragende Rolle zu. Auch die astronomische Ordnung hat ihre Geschichte, ihren je besonderen historischen Augenblick. In Hölderlins frühem Gedicht Kepler. 1789. ist die Datierung ein wesentlicher Bestandteil der künstlerischen Aussage. Das Gedicht ist nicht allein einem wegweisenden Astronomen gewidmet, sondern vielmehr einer Konstellation: Kepler 1789! Der Entdecker der elliptischen Form der Planetenbahnen und die Initialzündung der Französischen Revolution. In dieser Kombination verbindet sich ein naturzyklisches Geschehen mit einem historischen Augenblick, eine wissensgeschichtliche Umwälzung mit einer politischen, ein Herkunftszeichen mit einem Zukunftsentwurf.
Unter den Sternen ergehet sich
Mein Geist, die Gefilde des Uranus
Überhin schwebt er und sinnt; einsam ist
Und gewagt, ehernen Tritt heischet die Bahn.
(Keppler. 1789. MHA I, 71, v. 1-4)
Die große Jahreszahl 1789, für Hölderlin verbindet sie sich mit einer Heldengestalt der Astronomie. Johannes Kepler ist sein Mann der Stunde, ein Sternensucher und Sternengünstling. Der Anlaß, sich gerade dieses historischen Vorbilds zu entsinnen, war zunächst ein äußerlicher: Genau zweihundert Jahre zuvor war der im württembergischen Weil der Stadt Geborene in das Tübinger Stift aufgenommen worden und hatte dort mit dem Studium der freien Künste, später der Theologie begonnen. Kepler, so betont Hölderlins Ode nicht ohne lokalpatriotische Absicht, indem sie Newton zu seinem Nachfolger und Vollender erklärt, war
[…] der Mann,
Welcher den Denker in Albion,
Den Späher des Himmels um Mitternacht
Ins Gefild tiefern Beschauens leitete,
Und voran leuchtend sich wagt’ ins Labyrinth (ebd., v. 8-12)
Beide, die Planeten wie ihr Erforscher, mußten aus verschlungenen Irrwegen zur richtigen Bahn finden, so darf man Hölderlins dreimalige Rede vom „Labyrinth“ (MHA I, 71; v. 12, 20, 27) interpretieren. Dem Durchbruch Keplers wird eine pädagogische und aktualpolitisch pointierte Bedeutung beigemessen. „Du erzogst Männer des Lichts ohne Zal“ (MHA I, 72, v. 35). Das konnte 1789 nicht anders denn im Sinne und Dienste der éclairage verstanden werden.
Wenn aber eine historische Entdeckergestalt säkularen Ranges poetisch verherrlicht und politisch in Anspuch genommen werden sollte, warum dann nicht Kopernikus?[v] Noch bei Kopernikus wurden, durchaus in Kontinuität zur ptolemäischen Tradition, die Planetenbewegungen aus der vollkommenen Kugelgestalt der Erde und der übrigen Himmelskörper abgeleitet.[vi] Die bloße Umkehrung der Zuordnung von Ruhe und Bewegung im Verhältnis von Sonne und Erde tastet dieses sphärische Substanzdenken nicht an.[vii] Erst mit Keplers Überwindung der prästabilierten Kreisform fällt eine der letzten Bastionen theologisch-kosmologischer Scholastik. Auf die Ersetzung des Sphärenmodells durch die dynamische Konzeption eines ballistischen, den Gesetzen der Mechanik unterworfenen Bewegungsmodells nehmen Hölderlins Gedichte der Tübinger Zeit mehrfach Bezug:
Schon lernen wir das Band der Sterne,
Der Liebe Stimme männlicher versteh’n,
Wir reichen uns die Bruderrechte gerne,
Mit Heereskraft der Geister Bahn zu geh’n;
(Hymne an die Menschheit; MHA I, 120, v. 17-20)
Jahrhundertelang hatte die Astronomie die Himmelsläufe nicht als Bahnbewegungen, sondern als substantiierte orbitale Aufenthaltszonen gedacht, nach dem Modell der antiken Sphärenharmonie, das die Planeten an rotierenden Kugelschalen befestigt vorgestellt hatte. Dagegen das neue, heroisch konnotierte („männlichere“) Paradigma: Es ersetzt die Vorstellung eines „Bandes“, an welchem Sterne und Planeten angeheftet seien, durch die einer Geschoßbahn, einer steil und kühn den leeren Raum durchquerenden Bewegungsspur, wie sie den Planeten und erst recht den Kometen zugeschrieben wurde. „Wandle mit Kraft, wie der Held einher!“ (Keppler. 1789. MHA I, 71). Erst die Bahngesetze Keplers hatten definitiv den Übergang bereitet von der sphärischen zur dynamischen Astronomie, von der geometrisch garantierten Ordnung zur mathematisch prozessualen Bewegung, und damit zu den empiriefähigen Berechnungen und Vorhersagen Newtons und Halleys. Ganz zu Recht werden Keplers Errungenschaften gewürdigt, indem sie von der Mechanik Newtons her gesehen werden. Allein den ballistischen Kräften unterworfen, beschreiben die Planeten keine Sphären oder Zirkel, sondern lineare Bewegungsabläufe (Strahlen oder Pfade). Mit dieser Einsicht ist der Grund gelegt für die im Hyperion-Komplex entfaltete Denkfigur der exzentrischen Bahn. Der neue Begriff der Bahn ist der einer virtuellen, nur im Vollzug der Bewegung existenten Linie, die einen prinzipiell leeren Raum durchquert.
Hölderlin findet ein astronomisches Weltbild vor, in das bereits erhebliche Unordnung eingekehrt ist. Die kopernikanische Expulsion der Erde aus der Zentralposition wurde erst durch den Verlust des geometrischen Ideals der perfekten Kreisbahn in ihrer Dramatik voll erkennbar. Zur dezentrierten Lage des menschlichen Heimatplaneten trat mit Keplers Astronomia Nova die nicht-konzentrische Bahn dieses und aller anderen Planeten des Sonnensystems. Statt regelhafter Zyklen schien die pure Unvernunft am Himmel zu herrschen. Die Gestirne erwiesen sich in ihrer Bahn den menschlichen und geschichtlichen Irrungen ähnlicher als gedacht. Vor allem die Astronomen selbst gerieten durch die mit dem Fernrohr verfeinerte Datenerhebung in zunehmende Schwierigkeiten. Flagrant stellten sich diese Erklärungsnöte bei der Berechnung und Darstellung der Planetenbahnen, die sich zu bestimmten Zeiten als rückläufige Schleifen ausnahmen, die nur durch ein kompliziertes System von Epizyklen rechnerisch konstruiert werden konnten. Tatsächlich überlagern sich ja in ihrem Falle objektive und subjektive Bahnbewegung, denn zur Eigenbewegung der beobachteten Planeten tritt jene auf dem Beobachter-Planeten hinzu. Just diese gleichsam doppelt verwackelte Aufnahme verstand Kepler in einen Beobachtervorteil umzumünzen.[viii] Als der notorischste unter den Irrläufern erwies sich der erdnahe (d.h., mit starken Parallaxeneffekten anvisierte) Mars. Dessen akribisch erhobene, aber nicht zu einer kohärenten Figur sich fügende Bahndaten hatte der als Kaiserlicher Astronom in Prag arbeitende Tycho Brahe, Johannes Keplers großer Mentor, ungelöst an seinen Assistenten und Nachfolger übergeben.
Hyperions Exzentrik
Die reguläre Verfassung biographischer wie geschichtlicher Kontingenz ist die der Irrläufer oder Wandelsterne. Bei bewunderten Helden wie seinem Freunde Alabanda bedeutet es dem Ich-Erzähler Hyperion eine „Herzens Freude“, „diesem Geist auf seiner kühnen Irrbahn zuzusehn, wo er so regellos, so in ungebundner Fröhlichkeit, und doch meist so sicher seinen Weg verfolgte.“ (MHA I, 635) Die starke Zumutung, die von solcher ungebundenen Fröhlichkeit ausgeht, besteht in der zwar paradoxen, scheinbar aber mühelosen Verbindung der Irrungen mit dem sicheren Weg. Auch Hyperion ist ein Irrläufer, dessen Bahn durch das in seinem Eigennamen niedergelegte Programm vorgezeichnet scheint.[ix] „Zu den Sternen“ wollte er manches Mal entfliehen und „schweiffte herum, wie ein Irrlicht“. Ohne Anleitung und Aufgabe ist der junge griechische Schwärmer haltlos; „wie eine Rebe ohne Stab“, so bekennt er, sei er aufgewachsen (MHA I, 619). Exzentrisch im Sinne einer fliehenden Bewegung, die für keine zurechtweisende Rückbiegung mehr erreichbar ist: Damit ‚sprengt‘ die Konfiguration des Romans das Planetenmodell zugunsten der exzentrischen Himmelskörper schlechthin – der Kometen.
Die Linien einer Kometenbahn zeichnen sich erstmals in der Episode mit Adamas, dem naturkundigen Lehrer des Protagonisten, durch. Hyperions Unterweiser, von dem gesagt wird „sein Auge durchdrang die Räume des Himmels“ (MHA I, 623), Adamas also stieg auf die Berge mit seinem Schüler, um „des Nachts […] über uns die heiligen Sterne zu schauen, und nach menschlicher Weise zu verstehen.“ (MHA I, 620) Er erteilt dem Jüngling eine astronomische Lektion: die exzentrische Bahn eines kometenhaften Aufstieges wird aus einer schmerzvollen Trennung hervorgehen. Die Reisen durch den Archipelagus, der Aufstieg von Delos, schließlich der Besuch am Grabe Homers sind als Initiation des jungen Protagonisten zugleich eine Zeremonie des Abschieds. „Aber sage nur niemand, daß uns das Schiksaal trenne! Wir sind’s, wir! wir haben unsre Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die kalte Fremde irgend einer andern Welt zu stürzen, und, wär’ es möglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stürmten über des Irrsterns Gränzen hinaus.“ (MHA I, 622) Die Asymmetrie des pädagogischen Paars entspricht dem Ungleichgewicht innerhalb des Sonnensystems zwischen Zentralkörper und exzentrischem „Schwärmer“, wie man nach dem Bilde der kleinen, „zügellos schweifenden“ Feuerwerkskörper auch Kometen und Meteore mitunter zu nennen beliebte.[x] Hyperion ist solch ein Körper auf zentrifugaler Bahn. Die Abspaltung sich verdichtender Materiepartikel aus einer rotierenden Urwolke ist das kosmogonische Modell, das diesem Vergleich zugrunde liegt. „Endlich rissen wir uns los.“ (MHA I, 623) Die lapidare Trennung von Lehrer und Zögling birgt nicht weniger als eine Genesis der Planeten- und Kometenbahnen in nuce. Zu ihr führt jener Leitfaden, den die Frühfassungen ausgelegt haben, die Figur der exzentrischen Bahn.
In der Fragment-Vorrede wird die Berechenbarkeit der Irrbahnen durch ein allgemeines Gesetz behauptet, das die scheinbare Regellosigkeit in immer gleicher Weise stattfinden läßt. Die Bahn der Menschen ist „exzentrisch“ wie die der Himmelskörper. Es ist eigentlich ein simpler Analogieschluß, den Hölderlins in der Thalia publiziertes Fragment von Hyperion 1794 aufstellt. „Die exzentrische Bahn, die der Mensch, im Allgemeinen und Einzelnen, von einem Puncte (der mehr oder weniger reinen Einfalt) zum andern (der mehr oder weniger vollendeten Bildung) durchläuft, scheint sich, nach ihren wesentlichen Richtungen, immer gleich zu seyn.“ (MHA I, 489) Ein Jahr später faßt Hölderlin die entsprechende Passage folgendermaßen: „Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn, und es ist kein andrer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung.“ (MHA I, 558)
Die exzentrische Bahn ist eine Grundfigur Hölderlinschen Denkens. In der verzweigten und vielfältigen Auslegungsgeschichte dieser Figur hat Wolfgang Schadewaldt bereits 1952 darauf aufmerksam gemacht, daß hier eine astronomische Topik entworfen wird, die auf Keplers Entwirrung des Planetensystems und seiner komplizierten Schleifen und Epizyklen referiert. Der Begriff des Exzentrischen werde von Hölderlin „im ursprünglichen, astronomischen Sinne gebraucht.“[xi] Ein gewisser Zug des jungen Dichters zur Astronomie war schon mit dem zitierten Widmungsgedicht Keppler. 1789. Erkennbar geworden; zwei Jahre später äußerte er gegenüber Neuffer sein Bedauern darüber, „daß ich nicht bälder auf die Astronomie gerathen bin“, und faßt den Vorsatz: „Diesen Winter soll’s mein angelegentlichstes sein.“ (28. November 1791, MHA II, 476) In der Tübinger Studienzeit erhielt er bei Christoph Friedrich Pfleiderer, einem versierten Kenner der Euklidischen Geometrie, Unterricht in Mathematik und Physik.[xii] Zum Abschluß dieser naturkundlich-mathematischen Studien wurden am Tübinger Stift in der Zeit Hölderlins und Hegels häufig „solche Themen für Magister-Specimina vergeben, in denen vergleichende Gegenüberstellungen von Kopernikus, Kepler und Newton den Gegenstand bildeten.“[xiii] Noch Jahre später hob Hölderlin gegenüber dem Halbbruder Karl die Bedeutung der Mathematik hervor, „dieser herrlichen Wissenschaft“.
Den mathematischen Ordnungsrelationen spricht Hölderlin eine explikative Aussagekraft auch hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse zu. Ausdrücklich ist dies für die Geometrie der exzentrischen Bahn der Fall, die Hölderlin zu einer Chiffre des von Rousseau, Kant und Schiller beschriebenen triadischen Geschichtsmodells umfunktioniert. Bei dieser Transposition des Astronomischen ins Moralische nun eröffnen sich die Schwierigkeiten und Spielräume der Auslegungsfragen. Relativ klar ist, daß Hölderlins „zwey Ideale unseres Daseyns“ (MHA I, 489) den geschichtsphilosophischen Topos des Zwischenzustands aufgreifen, einer Gegenwart, die den Rousseauschen Naturzustand definitiv hinter sich weiß, während die künftige Perfektibilität der Bildung des Menschengeschlechts noch unerreichbar weit vorausliegt. Diese beiden Grenzwerte nennt das Thalia-Fragment „Einfalt“ und „Bildung“; die ein Jahr später niedergeschriebene Vorrede der Vorletzten Fassung hingegen „Kindheit“ und „Vollendung“, wobei phylogenetische und ontogenetische Aspekte durch den Topos vom antiken Griechenland als kollektiver Kindheitsphase der menschlichen Zivilisation verwoben sind. [xiv] Die philosophische ‚Grammatik‘ dieses Schemas hat große Ähnlichkeit mit den in Schillers kulturgeschichtlichem Modell ungefähr zeitgleich entwickelten Fluchtpunkten „Arkadien“ und „Elysium“, ebenso mit der Dualität von sinnlichem Stoff und geistiger Form in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen.[xv] Neben den vielfachen direkten Anregungen durch Schiller (der seine einschlägigen Arbeiten freilich erst nach Hölderlins Thalia-Fragment publizierte)[xvi] macht sich ein gemeinsamer Problem- und Diskussionshorizont bemerkbar[xvii], der durch die ‚Zwei-Reiche-Lehre‘ von Natur und Freiheit der Kantschen Kritiken bestimmt war, aber auch durch Fichtes dynamische Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich in der Grundlegung der Wissenschaftslehre (auf die Schiller in den Briefen ausdrücklich verweist). Dem Bestimmtwerden durch Natur und Notwendigkeit stehen als Strebensziele gegenüber Bildung und Selbstbestimmung in sittlicher Freiheit. Der Mensch „verläßt“, so Schiller im dritten Brief, „die Herrschaft einer blinden Notwendigkeit“; er holt „auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit nach, bildet sich einen Naturstand in der Idee“[xviii].
Wenn man die Geometrie der exzentrischen Bahn mit diesem triadischen Schema zu verknüpfen sucht, fällt an Hölderlins Erläuterungen auf, daß Einfalt und Bildung sowohl als „Ideale“ wie auch als „Zustände“ apostrophiert werden, d.h. als tendenzielle Zielpunkte wie auch als stationäre Phasen oder Geschichtsepochen. Die Ambiguität ist dahingehend aufzulösen, daß von außerhalb – also vom je aktuellen Gegenwartspunkt aus betrachtet – diese supponierten Grenzzustände nur als Ideale anvisiert werden können, sie an sich selbst aber jeweils als in einem stabilen und dauerhaften Gleichgewicht der Kräfte befindlich vorgestellt werden. Die „zwei Ideale“ so die Vorrede des Fragments, bezeichnen also „einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften […] durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zuthun, gegenseitig zusammenstimmen, und einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe stattfinden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind.“ (MHA I, 489) Der von Herder übernommene Begriff der Organisation[xix] betont die strukturierte und dynamische, selbst schon gesellschaftsförmige Natur beider Zustände; anders als Herder subsumiert Hölderlin das geregelte Spiel der Kräfte jedoch keinem metahistorischen, theologisch begründeten Telos.
Schon bei Fichte und Schiller liegt eine ganz entscheidende Modifikation der geschichtsphilosophischen Drei-Stadien-Lehre darin, die im Zwischenzustand der Gegenwart auftretenden Entgegensetzungen als Dynamik gleichzeitig wirksamer und in „Wechselwirkung“ befindlicher Kräfte zu konzipieren.[xx] Das Geschichtsdenken um 1800 betont die bipolare Ausrichtung des menschlichen Subjekts „durch zwei entgegengesetzte Kräfte“[xxi], die Schiller (mit Reinhold) anthropologisch als Triebe bestimmt. Der dem physischen Dasein botmäßige „sinnliche Trieb“ ist ganz der Materie und den „Schranken der Zeit“ unterworfen. „Mit unzerreißbaren Banden fesselt er den höher strebenden Geist an die Sinnenwelt“, während der „Formtrieb“ demgegenüber „bestrebt“ ist, den Menschen „in Freiheit zu setzen“. In Fichtes Wissenschaftslehre findet sich dieser Dualismus in der „synthetisch“ vereinigten „Thätigkeit der Form und der Materie“[xxii]. Das unentscheidbare, ewige Kräftespiel beider ist unverkennbar nach jenem von Fliehkraft (auch bei Fichte der Begriff des „Strebens“) und Schwerkraft (bei Schiller: die unzerreißbaren Bande) gemodelt. „Im Streben des Ich wird zugleich ein Gegenstreben des Nicht-Ich gesetzt, welches dem ersteren das Gleichgewicht halte.“[xxiii]
Von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, die Hölderlin als Hofmeister im Hause von Kalb seit September 1794 in druckfrischen Lieferungen studieren konnte[xxiv], wie auch von ihrer Verarbeitung in Schillers Briefen ist jene zweite, in der zweiten Jahreshälfte 1795 in Nürtingen entstandene Passage, in der Hölderlin erneut von der exzentrischen Bahn spricht, in Wortwahl und Argumentationsweise deutlich inspiriert. „Die seelige Einigkeit, das Seyn, im einzigen Sinn des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los von friedlichen en kai pan der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst.“ (MHA I, 558) Die Fichteschen Kategorien Ich und Nicht-Ich ersetzt Hölderlin durch den Gegensatz von Selbst und Welt (respektive von Subjekt und Objekt), der als unauflöslicher Widerstreit von opponierenden Kräften (dem Fichteschen „Streben“) beschrieben wird: „Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden allen Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, dem wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all’ unseres Strebens, wir mögen uns darüber verstehen oder nicht. Aber weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Daseyns dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist; die bestimmte Linie vereiniget sich mit der unbestimmten nur in unendlicher Annäherung.“ (Ebd.) Wiederum ist die Restitution der ursprünglichen Harmonie in einer zweiten, herzustellenden Natur mit dem Vorbehalt eines nur unvollständigen Gelingens versehen.
Mit dem Bild eines Prozesses asymptotischer Annäherung[xxv] sind nun die entscheidenden Motive versammelt, die den Komplex der exzentrischen Bahn in den beiden Vorreden bestimmen. Was die Analogie gesellschaftlicher und individueller Entwicklung betrifft, ist zu erkennen, daß Hölderlin sich mithilfe der Anregungen Fichtes und Schillers vom triadischen Geschichtsschema zugunsten eines synchron organisierten, durch den permanenten Widerstreit opponierender Kräfte in Gang gehaltenen ballistischen Modells gelöst hat. Anders als eine prästabilierte Kreisbahn untersteht die Ellipse einer an zwei Brennpunkten ausgerichteten, bipolaren Ordnung. Sie beschreibt, wie schon im Kepler-Gedicht anklingt (wo der gefeierte Astronom „den Pfad, hin an dem Pol, wies dem Gestirn“; MHA I, 71, v. 28), eine Bahn der Extreme.
Diese Bahn ist dem vektoriellen Zeitbegriff insofern kompatibel, als sie durch die stetige Beschleunigung vom sonnenfernsten (Aphel) zum sonnennächsten Punkt (Perihel) einem ausgeprägt linearen Richtungssinn unterliegt. Die räumliche Deformation des Kreises impliziert auch eine zeitliche der zuvor für gleichförmig erachteten Geschwindigkeit. Keplers zweitem Bahngesetz zufolge, wonach der Radiusvektor der Planetenbahnen in gleicher Zeit über gleiche Flächen streicht, ist der Planet in seinem sonnenfernsten Punkt auch am langsamsten. Der Punkt des Aphel fällt für die Nordhalbkugel der Erde mit dem Datum der Sommersonnenwende zusammen; d. h., gerade dann, wenn die Sonne am höchsten steht, beginnt die Erde, sich ihr mit zunehmender Geschwindigkeit zu nähern. Das Wintersolstitium dagegen weist die maximale Bahngeschwindigkeit auf und leitet deren beginnende Abnahme bei zugleich wachsender Entfernung ein. Mit den beiden Äquinoktien ist hingegen eine equilibrierende Qualität verbunden: Sie nämlich bezeichnen die mittlere Bahngeschwindigkeit und Sonnendistanz der Erde – die sie immer und gleichförmig haben würde, wenn sie einer nichtpolaren, nichtelliptischen Kreisbahn folgte. Das Frühlingsäquinoktium signalisierte mit dem Eintritt der Sonne in das Zeichen des Sternbildes Fische zudem den astronomischen Beginn des Tierkreiszyklus: „Zur Märzenzeit, / Wenn gleich ist Nacht und Tag“ (Andenken, MHA I, 474, v. 21). Dieser auch kirchengeschichtlich (z. B. für die Bestimmung des Ostertermins) höchst bedeutsame Zeitpunkt fiel meist mit dem Geburtstag des Dichters am 20. März überein. Eine den astronomischen Zyklen und ihrer Geometrie verpflichtete Dramaturgie zeichnet sich in der gesamten Handlungsstruktur des Hyperion durch. Zu ihrer entscheidenden Frage aber wird diejenige der Versöhnung von Linie und Kreis, von Bewegung und Beständigkeit.
Kometen- und Planetenbahn
„Möcht’ ich ein Komet seyn? Ich glaube. Denn sie haben die Schnelligkeit der Vögel; sie blühen an Feuer, und sind wie Kinder an Reinheit. Größeres zu wünschen, kann nicht des Menschen Natur sich vermessen.“ (In lieblicher Bläue; MHA I, 909) Aus Kants 1755 erschienener Theorie des Himmels konnte Hölderlin lernen, daß die „Excentrizität“, als „das vornehmste Unterscheidungszeichen der Kometen“ eingeführt, bei diesen nur dem Grade nach, aber nicht prinzipiell von der Bahn der Planeten differiert[xxvi]; die Kometen bieten gleichsam deren ins Extrem getriebene, vergrößerte Darstellung. Mit Keplers Kegelschnitten lag zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts zwar bereits ein brauchbares Modell zur Bahnberechnung dieser Exzenter vor, doch wurde es ausgerechnet für diese Phänomene von Kepler selbst nicht in Betracht gezogen. Zeitlebens hielt er fest an der Überzeugung, die Bahn der Kometen „sey eine gerade Linie wie eines Raketels und nicht circularisch wie der immerwehrenden Planeten.“[xxvii] Während die Kometen in gerader Linie wie ein Projektil über die Grenzen des Systems hinausschössen, werden sie auf krummer Bahn zu kalkulierbaren fellow travelers, zu Gefährten. Ob gerade Linie oder krumme Bahn, das ist die eigentliche Theodizee-Frage bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Die Beobachtung und Analyse der Kometen avancierte zu einem bevorzugten Studienfeld der nach-Newtonschen Astronomie. Mit der von Edmond Halley vorhergesagten, am Weihnachtsabend 1758 durch den Landwirt und Amateurastronomen Johann Georg Palitzsch entdeckten Wiederkehr des Kometen von 1682 rückte die Regularität der Kometenbahnen auf spektakuläre Weise in den Rang einer wissenschaftlichen Tatsache. [xxviii] Sie bewegen sich überwiegend auf elliptischen Zyklen und lassen sich darum als periodisch auftretende Mitglieder unseres Planetensystems begrüßen – eine Erkenntnis, die diesen besonderen Himmelskörpern gleichwohl nichts von ihrer Faszination und den befürchteten Kollisionen nur wenig von ihrem Schrecken nahm.
Für die geschichtsphilosophischen Aspekte der Himmelsverfassung hatte die Kometen-Debatte die Möglichkeit erbracht, die einander widerstreitenden Prinzipien von kreisförmiger Kehre und vektorieller Linie in ein synchrones Anschauungsmodell zu integrieren. Tatsächlich ist die krumme Linie aller Sonnentrabanten im Falle extrem flacher Ellipsenbahnen nur an den Scheitelpunkten als solche wirksam – um so dramatischer aber fallen dann jene dynamischen Effekte aus, die den fliehenden Körper zurechtweisen und zu einer Umkehr zwingen. Der große Rhythmus des kosmischen Pulsierens, in dem Kant eine alternierende Folge langanhaltender Expansions- und Kontraktionsphasen vermutet, wird in den Kometenbahnen mit jeder Kehre manifest. Sie sind exzentrische Sonnen-Flüchtlinge und scheinen bei ihrer rasanten Rückkehr dann fast wieder mit dem Zentralgestirn zu verschmelzen. Wie hatte Hyperion die Trennung von seinem Lehrer Adamas nach dem Sonneritual von Delos kommentiert? Mit der Affekt-Geometrie eines zornigen jungen Kometen: „wär’ es möglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stürmten über des Irrsterns Gränzen hinaus.“ (MHA I, 622)
Hyperion, seines Zeichens menschlicher Protagonist, kosmogonische Reminiszenz und virtueller Flugkörper in einem, ist gleichsam als De-Allegorese seines mythischen Vorgängers dessen Reinkarnation unter den Vorzeichen zeitgenössischen astronomischen Wissens. Wie die Entstehungsgeschichte der Verfassung des Sonnensystems kennt auch Hyperions Schicksal die Dynamik von Zentripetal-Schub und Zurechtweisung. „[…] das schafft dem Menschen sein Elysium und seine Götter, daß seines Lebens Linie nicht grad ausgeht, daß er nicht hinfährt, wie ein Pfeil, und eine fremde Macht dem Fliehenden in den Weg sich wirft.“ (MHA I, 645) Fast in astronomischem Klartext nennt Hölderlin Fliehkraft und Gravitation als die neuen Schicksalsgötter, von deren Kräfteparallelogramm die resultante Heldenbahn dependiert. Seit Kepler und Newton sind es dem Sonnensystem analoge Modelle, die zum Testfall der Theodizee werden. Wer als Romanautor Schicksal spielt, der schickt seinen Protagonisten durch einen Teilchenbeschleuniger. Bereits im Thalia-Fragment wird die unmögliche Rückkehr in ein Goldenes Zeitalters als diejenige geschichtsphilosophische Referenz beschrieben, deren Repulsionskraft den Helden in seinen exzentrischen Orbit katapultiert. „Alles muß kommen, wie es kömmt. Alles ist gut. […] Wir sind nicht für’s Einzelne, Beschränkte geschaffen. Nicht wahr, mein Bellarmin? Mir wuchs ja nur darum kein Arkadien, daß das Dürftige, das in mir denkt und lebt, sich ausbreiten soll, und das Unendliche umfassen.“ (MHA I, 496f.)
Arkadien und Elysium, den Flieh- und den Ziehpunkt der exzentrischen Bahn, hat Hölderlin aus der geschichtsphilosophischen Temporalachse in eine Ellipsengeometrie überführt. Sie sind nicht mehr als epochale Stationen aufgefaßt, sondern als koexistente, polare Brennpunkte. Je näher ein Trabant dem einen dieser Brennpunkte kommt, um so mehr wächst die Gegenkraft des anderen, bis die Umkehr beginnt. Auch in Schillers – noch teleologisch ausgerichtetem – Geschichtsmodell macht sich zuweilen diese Bahnfigur polarisierter ‚Kehren‘ bemerkbar. Das nämlich, so bemerkt er eingangs der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, „das macht ihn zum Menschen, daß er bei dem nicht stillesteht, was die bloße Natur aus ihm macht, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm antizipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu tun“. Häufig sind solche positiven Konnotationen der „Rückkehr“ am Ende des 18. Jahrhunderts die Echos der Natur-Philosophie Rousseaus. Besonders der Hyperion ist geradezu leitmotivisch grundiert mit Variationen der Rousseau zugeschriebenen Devise einer „Rückkehr zur Natur“. [xxix] Doch ist diese berühmte Formel nicht auf die einsinnige Botschaft einer rückwärts gewandten Zivilisationskritik zu reduzieren. Rousseau selbst macht deutlich, daß diese Richtungen aufhören, starre lineare Alternativen zu sein, sobald man von einer gekrümmten Bahn ausgeht. Im Emile etwa wird der Umschlag des Fortschreitens in eine Bewegung der Rückkehr als lebensgeschichtliche Erfahrung ausgesprochen. „Es gibt einen Zeitpunkt im Leben, über den hinaus man beim Vorwärtsschreiten nur zurückgeht. Ich fühle, daß ich über diesen Punkt hinaus bin. Ich beginne sozusagen wieder auf einer andern Laufbahn. Die Leere des reifen Alters, die ich spüre, läßt mich an die süße Zeit der ersten Kindheit zurückdenken. Mit zunehmendem Altern werde ich wieder Kind, und ich erinnere mich lieber an das, was ich mit zehn als mit dreißig Jahren tat.“[xxx] Es versteht sich, daß diese Figur des „retour“ nicht als pragmatischer Vorschlag einer Rückkehr zu früheren Zuständen der individuellen oder sozialen Entwicklung zu realisieren ist. Doch beschreibt der von Rousseau und Schiller imaginierte Rückwärtsgang eine geschichtsphilosopische Problemlage, der sich Hölderlin von einer anderen, astronomiegeschichtlichen Seite nähert.
Die literarische Gestalt, in die Hölderlin seine Rezeption des astronomischen Denkens überführt, ist der steile Bogen seines aufbegehrender Helden Hyperion, „den die Langeweile des Jahrhunderts peinigt“. Die kunstvollen Schleifen und Spiegelungen des erlebenden und erzählenden Handlungskreises durchlaufend, folgt auch er „so mancher wunderbaren, krummen Bahn, die sich das Leben bricht, seitdem sein grader Gang gehemmt“ (MHA I, 597).
[i] Sämtliche Hölderlin-Zitate werden im Text fortlaufend nachgewiesen nach folgender Ausgabe: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bde., Hg. Michael Knaupp, München 1992/93 (zit. MHA).
[ii] Gerhard Kurz, Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin, Stuttgart 1975, S. 44.
[iii] Reinhart Koselleck, „Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs“, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1979, S. 67-86, hier S. 73f.; vgl. ders., Art. „Revolution. Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Hg. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653-788.
[iv] Bedeutende Astronomen der Revolution waren u.a. Jerôme Lalande, Jean-Sylvain Bailly (der Präsident der ersten Nationalversammlung und Bürgermeister von Paris), ferner Delambre und Laplace; eines der wichtigsten und kulturell folgereichsten Projekte der Revolution bestand bekanntlich in der Einführung einer neuen Kalenderordnung, und auch bei dieser waren astronomische Expertisen ausschlaggebend.
[v] Wie Herder just in der von Hölderlin für sein Magister-Specimen studierten Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie anregte: „Ich zweifle nicht, daß aus Copernicus und Newton, aus Buffons und Priestleys Systemen sich ebenso hohe Naturdichtungen machen ließen, als aus den simpelsten Ansichten […].“ („Vom Geist der Ebräischen Poesie“, in: Sämmtliche Werke, Hg. Bernhard Suphan, Bd. 11, Berlin 1879, S. 293.)
[vi] »Mobilitas enim sphaerae est in circulum volui, ipso actu formam suam exprimentis in simplicissimo corpore«. (Copernicus, De revolutionibus, S. 94). Zur Aktualität Kopernikus’ im 18. Jahrhundert, in dem die Radikalität seiner theoretischen Neubegründung erst sichtbar wurde, vgl. Hans Blumenberg Die Genesis der kopernikanischen Welt, 3 Bde., Frankfurt/Main 1981, bes. S. 567-606.
[vii] Es war Tycho Brahe, der mit seiner Untersuchung des Kometen von 1577 dem Modell der materialisierten Sphären das Ende bereitete; da die von ihm ermittelte Bahn des Kometen gleich mehrere Planeten‚sphären‘ querte, hätte sie die kristallenen Schalen zum klirrenden Einsturz bringen müssen.
[viii] Kepler verfiel auf den Kunstgriff, die Beobachterunschärfe gleichsam auf den Gegenstand zu projizieren und daraus wiederum die Bewegung des Beobachters rückzurechnen. Indem er mehrere Marsdaten nach jeweils einem kompletten Umlauf des Planeten (dessen Dauer bekannt war) aufeinanderlegte, konnte er die Objektbewegung rechnerisch stillstellen; die dann noch sich abzeichnende Ortsveränderung mußte allein auf den Parallaxeneffekt zurückgehen und stellte folglich die Eigenbewegung der Erde dar.
[ix] Hyperion ist, je nach Lesart, als „der wandelnde Obere“ oder „der Drüber-hingehende“ zu übersetzen und in beiden Fällen „auf Helios bezogen“, wie Wolfgang Binder feststellt („Hölderlins Namenssymbolik“, S. 137). Im Schol. Ven. zur Ilias-Stelle 8, 480 wird Hyperion erläutert als „der oben über uns gehende und den Erdkreis umwandelnde“ (ebd.). Allerdings gewinnt jenseits der antiken Kosmologie dieser „Überflieger“ (ebd., S. 141) den allgemeineren Sinn eines astronomischen Flugkörpers jenseits fester Positionen oder Orbitale; daß die Flugbahn nun nicht mehr mit der Sonne identifiziert werden kann, eröffnet für Hölderlin die Möglichkeit der Darstellung Hyperions als eines Kometen, der sich in Sonnennähe zu einem feurigen „Lichtstrahl“ verwandelt.
[x] Art. „Schwärmer“, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 15 (Leipzig 1899) Reprint München 1984, Sp. 2291f.
[xi] Wolfgang Schadewaldt, „Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hölderlin“, in: Hölderlin-Jahrbuch 6 (1952), S. 1-16, hier S. 2.
[xii] Wilhelm Böhm, Hölderlin, Bd. 1, Halle 1928, S. 22; vgl. auch Schadewaldt, „Das Bild der exzentrischen Bahn“, S. 3, und Michael Franz, „Hölderlins Platonismus. Das Weltbild der ‚exzentrischen Bahn‘ in den Hyperion-Vorreden“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie Jg. 22 (1997), S. 167-187, hier S. 180f.
[xiii] Kurt Rainer Maist, „Editorischer Bericht zur Habilitationsschrift“, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. V: Schriften und Entwürfe (1799-1808), Hg. Manfred Baum und Kurt Rainer Maist unter Mitarbeit von Theodor Ebert, Hamburg 1998, S. 644.
[xiv] Beide Termini treten freilich im Fragment auch schon kombiniert auf: „So müssen […] die Ahndungen der Kindheit dahin, um als Wahrheit wider aufzustehen im Geiste des Mannes. So verblühen die schönen jugendlichen Myrthen der Vorwelt, die Dichtungen Homers und seiner Zeiten, die Prophezeiungen und Offenbarungen, aber der Keim der in ihnen lag, gehet als reife Frucht hervor im Herbste. Die Einfalt und Unschuld der ersten Zeit erstirbt, daß sie wiederkehre in der vollendeten Bildung, und der heilige Friede des Paradieses gehet unter, daß, was nur Gabe der Natur war, wiederaufblühe, als errungnes Eigenthum der Menschheit.“ (MHA I, 505f.)
[xv] Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Sämtliche Werke, Hg. Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert, 9. Aufl. München 1993, Bd. 5, 570-669. Nicht zufällig koinzidiert die Inkubationsphase beider Schriften im Herbst 1794 mit einer Zeit intensiveren persönlichen Kontaktes zwischen Schiller und Hölderlin. Gegenüber den ursprünglichen Augustenburger Briefen weisen die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen, deren Niederschrift Schiller im September 1794 aufnimmt, eine veränderte Konzeption auf. Sie zollt der griechischen Totalitätsvorstellung und dem harmonischen Gleichgewicht des Naturzustandes stärkeren Tribut und strebt beide „durch eine höhere Kunst wieder herzustellen“ (ebd., 588), wie es im 6. Brief heißt. Auch den bereits 1793 gegenüber Körner erwähnten Plan eines Aufsatzes über das Naive griff Schiller im September 1794 wieder auf, um die Abhandlung dann im Herbst 1795 fertigzustellen. Ebenfalls im September 1794 erhält Schiller von Hölderlin das Fragment von Hyperion in einer vorläufigen Fassung, konnte es also für die zu dieser Zeit anstehende Niederschrift der Briefe nutzen, erst recht für die Konzeption des Aufsatzes über Naive und sentimentalische Dichtung. „Von Fortschritten, ja Begeisterung für die Arbeit an dieser Materie berichtet Schiller erst im September 1794 […]“ (Violetta L. Waibel, Hölderlin und Fichte 1794-1800, Paderborn 2000, S. 125).
[xvi] Die Prioritätsverhältnisse lassen sich nicht eindeutig klären, sie sind sogar dahingehend interpretierbar, daß Schiller durch Hölderlin „entscheidende Anregungen erfahren haben kann“ (Waibel, Hölderlin und Fichte, S. 123). Waibel begründet diese These damit, daß im Aufsatz über das Naive und Sentimentalische „auf den ersten Seiten Gedanken ausgearbeitet sind, wie sie sich auch in Hölderlins Fragment finden“ (ebd., S. 125).
[xvii] Dieses konzertierende philosophische Feld wird insbesondere aus dem von Dieter Henrich initiierten Projekt der „Konstellationsforschung“ ersichtlich, das die exemplarische und zugleich exzeptionelle Situation des Jenaer „Denkraumes“ von 1794/95 zu erkunden unternahm: Dieter Henrich, „Die Erschließung eines Denkraums. Bericht über ein Forschungsprogramm zur Entstehung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant in Jena 1789-1795“, in: ders., Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991, S. 215-263. Zum intellektuellen Kräftefeld Jenas während der Anwesenheit Hölderlins vgl. ferner: Ulrich Gaier et al.: Hölderlin Texturen 2: Das „Jenaische Project“. Das Wintersemester 1794/95 mit Vorbereitung und Nachlese. Tübingen 1995; Theodore Ziolkowski, Das Wunderjahr in Jena. Geist und Gesellschaft 1794/95, Stuttgart 1998.
[xviii] Schiller, „Ästhetische Erziehung“, S. 574.
[xix] Ulrich Gaier, „Hölderlin und die Theorie der Organisation“, in: Text und Kritik: Friedrich Hölderlin, Hg. Heinz Ludwig Arnold, München 1996, S. 51-61; ders., Hölderlin. Eine Einführung, Tübingen und Basel 1993, S. 92-96.
[xx] Schiller, „Ästhetische Erziehung“, S. 607. Schiller weist ausdrücklich auf Fichte hin, bei dem allerdings um die erkenntnistheoretisch akzentuierte „Wechselbestimmung“ von Ich und Nicht-Ich geht. Auch für Hölderlin ist dies ein Punkt von entscheidendem Interesse. An Hegel schreibt Hölderlin am 26. 1. 1795: Fichtes „Auseinandersezung der Wechselbestimmung des Ich und Nichtich (nach s. Sprache) ist gewis merkwürdig“ (MHA II, 569).
[xxi] Schiller, „Ästhetische Erziehung“, S. 604; die nachfolgenden Zitate ebd., 604f.
[xxii] Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Fichtes Werke Bd. 1, Berlin 1971, S. 191.
[xxiii] Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, S. 285.
[xxiv] Der Zeitraum für Hölderlins ersten Kontakt mit der Wissenschaftslehre ist durch zwei Schreiben Charlotte von Kalbs recht genau einzugrenzen, in denen sie am 11. August um Übersendung der wöchentlich von Fichte herausgegebenen Bogen bittet und am 1. September für deren Erhalt dankt. Violetta Waibel vermutet, daß diese Bestellungen „auch aufgrund des Interesses und des Drängens von Hölderlin erfolgt sind.“ (Waibel, Hölderlin und Fichte, S. 23.)
[xxv] In ähnlicher Diktion verwendet Hölderlin dieses Bild in dem Fragment Hermokrates an Cephalus (MHA II, 51) und im Brief an Schiller vom 4. 9. 1795: „die Vereinigung des Subjects und Objects“ lasse sich „theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung“ erreichen, „wie die Annäherung des Quadrats zum Zirkel“ (MHA II, 595f.).
[xxvi] Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, in: Vorkritische Schriften I: 1747-1756, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, S. 215-368, S. 280.
[xxvii] Johannes Kepler, „Bericht von dem im Jahre 1607 erschienenen Kometen“, in: Gesammelte Werke, Bd. IV: Kleinere Schriften, Hg. Max Caspar und Franz Hummer, München 1941, S. 55-76, hier S. 59.
[xxviii] Manfred Reichstein, Kometen: Kosmische Vagabunden, Leipzig etc. 1985, S. 18f.; Gustav A. Tamman/Philippe Véron, Halleys Komet, Basel, etc. 1985, S. 205ff.
[xxix] „Vollendete Natur muß in dem Menschenkinde leben, eh’ es in die Schule geht, damit das Bild der Kindheit ihm die Rükkehr zeige aus der Schule zu vollendeter Natur.“ (Hyperion; MHA I, 682); weitere Belegstellen aufgeführt bei Jürgen Link, Hölderlin – Rousseau: Inventive Rückkehr, Opladen, Wiesbaden 1999, S. 189.
[xxx] Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Hg. Martin Rang, unter Mitarb. des Hg. übers. von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1963, S. 295.
Publikationen / Warburg-Professur