Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg
DAS GEBÄUDE: ARENA DER WISSENSCHAFTEN
Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in der Heilwigstraße 116 wurde 1925-1926 errichtet. Direkt neben dem Wohnhaus Warburgs mit der Hausnummer 114, dessen Räume bis zu diesem Zeitpunkt zugleich auch als Bibliothek, improvisierte Vortragssäle und Büros dienten, wurde die Architektur in eine schmale Baulücke hineingeplant, um der K.B.W. als inzwischen etablierter Institution auch eine räumlich angemessene Präsenz zu verleihen. Der Neubau, der am 1. Mai 1926 mit einer Rede Ernst Cassirers eingeweiht wurde, markierte den Abschluss einer Entwicklung vom Handapparat des Studenten und Privatgelehrten zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek als (halb)öffentlicher Einrichtung. Die enge Verbindung Warburgs mit seiner Bibliothek blieb auch in der neuen Gebäudekonstellation erhalten, etwa indem der Personenaufzug in allen Stockwerken Bibliotheks- und Wohnhaus verband.
Architekt der K.B.W. war Gerhard Langmaack, der für diese Aufgabe von Fritz Schumacher als Oberbaudirektor und Freund Warburgs empfohlen wurde. Schumacher steuerte auch erste Ideen zur Gestalt des Gebäudes bei, das Architekt und Bauherr dann in enger Absprache und Auseinandersetzung entwickelten, und das Warburgs Brüder finanzierten.
1925 – 1926
PLANUNG UND BAU DES BIBLIOTHEKSGEBÄUDES
Die Ellipse
Hinter der an die großen öffentlichen Bauten Schumachers erinnernden Backsteinfassade entwickelt sich ein rational durchgegliederter Baukörper aus dem dreigeschossigen, zur Straße gelegenen Bürotrakt, dem viergeschossigen Bücherturm und dem ellipsoiden, in den Garten reichenden Lese- und Vortragssaal. Dabei war für Warburg die Ellipse als Formelement des Saals im Entwurfsprozess zentral.
Die Decken-Ellipse als Symbol
Als exemplarisch für die architektonische Sorgfalt und die Liebe zum Detail darf Aby Warburgs keineswegs rein ästhetische Entscheidung bei der Einrichtung seiner Kulturwissenschaftlichen Bibliothek 1926 gelten, der Decke des Lesesaales die Form der Ellipse zu geben. Das elliptische Oberlicht gibt diesem Raum sein auffälliges und gefälliges Format und ist dabei ein absichtsvoll platziertes Symbol. Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg war mit ihren 60 000 Bänden der Erforschung des Nachlebens der Antike gewidmet. Im Fokus steht damit die Renaissance. Den Denkern der Renaissance war die von Johannes Kepler 1605 entdeckte, 1609 veröffentlichte elliptische Form von Planetenumlaufbahnen ein Zeichen dafür, dass es Freiheit im Kosmos gäbe. Aby Warburg hat sich – durch den befreundeten Philosophen Ernst Cassirer darin ausdrücklich bestätigt – für die Ellipse entschieden, um diese kosmologische Freiheitsidee der Renaissance im Bewusstsein zu halten und das Programm der Freiheit wissenschaftlicher Forschung in symbolischer Form zum Ausdruck zu bringen. Die Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten war für Warburg überdies Zeichen eines Weltverhältnisses, das zwischen zwei Polen schwankt: zwischen Mythos und Logik, Magie und Mathematik, konkretem Körper und abstraktem Zeichen, manischer Bewegung und melancholischer Hemmung. Das Verhältnis der Gegensätze lässt sich nur bedingt als kontinuierlicher Fortschritt fassen – vielmehr widmet sich Warburg den historischen Vermittlungsleistungen. In diesem Sinn war die Ellipse für Warburg Energieform, in der die Spannung zwischen den Gegensätzen präsent gehalten ist.
Neueste Technik
Warburg legte besonderen Wert darauf, dass der zentrale, ellipsoide Raum des Gebäudes gleichermaßen als Auditorium und als Studiensaal nutzbar war, und bezeichnete ihn als „Arena der Wissenschaften“. Da sich nur ein kleiner Teil der Bibliothek im Lesesaal zur Freihandnutzung aufstellen ließ, sorgte avancierte Technik dafür, dass die Bücher aus dem Magazintrakt über eine Nische in den Lesesaal gelangten, ohne die Bibliotheksbesucher bei ihrer geistigen Arbeit zu stören. Auch bei Vorträgen kam modernstes Gerät zum Einsatz.
Hightech in der K.B.W.
Aby Warburg hatte sein Institut nicht nur mit einer umfassenden Fotothek, sondern auch mit den fortschrittlichsten Reproduktions- und Projektionsanlagen seiner Zeit ausgestattet. Der Lesesaal verfügte über ein modernes Epidiaskop, das Doppelprojektionen erlaubte, und selbst eigens angefertigte Farbdiapositive konnten zu Bildvergleichen herangezogen werden. Anlässlich seines Vortrags Orientalisierende Astrologie berichtete Warburg am 6. Oktober 1926 in einem Brief an Ludwig Binswanger über die große Anzahl der dabei eingesetzten Bilder („einen Zeitraum von etwa 4000 Jahren umspannend“) und hob bei dieser Gelegenheit die Bedeutung moderner Nachbildungstechnologie hervor: „Als große Hilfe kam bei diesem Versuch hinzu, daß unsere Photographiermaschine – eine ›Photoclark‹ von Dr. Jantsch in Überlingen – es erlaubt, in ganz kurzer Zeit eine gewaltige Anzahl von Abbildungen ohne Glasnegativ zu reproduzieren.“ Der Kunsthistoriker war sich vollkommen darüber bewusst, dass sein komparatistisches Arbeits- und Demonstrationsverfahren auch von der materiellen Ausstattung seines Bilderlabors abhängig war. In das Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek notierte er am 24. Januar 1928: „Ohne den Photographen im Hause würde die Entfaltung der ›neuen Methode‹ nicht möglich sein.“ Zwar stand Warburg, der in seiner Sprache immer wieder auch Metaphern der technischen Welt einsetzte, einigen Erfindungen seiner Zeit durchaus skeptisch gegenüber, und machte beispielsweise die zeitgenössischen Kommunikationsformen von Telegraf und Telefon für einen Distanzverlust verantwortlich, der den „Denkraum der Besonnenheit“ bedrohte. Doch für die Abläufe seines eigenen Forschungsinstituts nutzte er wie ein modernes Bank- oder Kontorhaus die Errungenschaften seiner Zeit: Das Gebäude der K.B.W. war mit zahlreichen Telefonen ausgestattet, ein Rohrpostsystem erleichterte die Kommunikation von Ausleihwünschen innerhalb der Bibliothek, die Bücher selbst konnten rasch und ohne die Leser zu stören mit einem unter dem Fußboden angebrachten Transportband sowie einem Bücheraufzug von den Magazinen in den Lesesaal gebracht werden.
MNEMOSYNE – DEM GEDÄCHTNIS GEWIDMET
Über dem Eingang zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek ist in griechischen Lettern das Wort „Mnemosyne“ eingemeißelt. Mnemosyne, Göttin der Erinnerung und Mutter der neun Musen, markiert auch Aby Warburgs Zugang zur Kunstgeschichte. So war sein Lebenswerk dem Versuch gewidmet, den Einfluss der Antike auf die Neuzeit als Effekt kultureller Erinnerungsprozesse zu konzeptualisieren. Antike Bildprägungen und Vorstellungswelten sind wie in einem Gedächtnis gespeichert und werden in der Kunst der Neuzeit gleichsam erinnert.
Bilder, so suggeriert die Metapher vom Gedächtnis, besitzen ein Eigenleben. Sie werden nicht nur kontinuierlich tradiert und bewusst angeeignet, sondern machen sich auch als geisterhafte Wiedergänger und „Revenants“ sprunghaft wieder geltend.
Bildgedächtnis
Dem Phänomen eines abendländischen Bildgedächtnisses war Warburg seit den 1890er Jahren auf der Spur. Bereits in den Aufzeichnungen zur Ausdruckskunde, die seine Dissertation zu Botticelli begleiten, konzipierte Warburg die künstlerischen Rückgriffe auf antike Bildprägungen als Gedächtnisleistung. Künstler begegnen intensiven Eindrücken, Krisen und Umbrüchen, indem sie unwillkürlich Bildformulare von extremen Erfahrungszuständen reproduzieren. Von Theoretikern wie Ewald Hering oder Richard Semon, die sich aus der Sicht der Wahrnehmungspsychologie und Evolutionsbiologie mit der Vererbung erworbener Eindrücke befassen, bezog Warburg die Stichworte „Engramm“ und „Mneme“, mit denen er die Einschreibung und Speicherung von Bildern in den psychischen Apparat wie den künstlerischen Organismus umschreibt. Warburgs besondere Aufmerksamkeit galt den semantischen Verschiebungen, denen die Bildformeln in ihren neuen Verwendungszusammenhängen ausgesetzt sind. So fragte Warburg gerade nicht nach den – im Sinne herkömmlicher Ikonographie – petrifizierten Bedeutungen von Bildmotiven, sondern – im Sinne der von ihm begründeten Ikonologie – nach ihrer Geschichte.
BILDERREIHEN – NACHLEBEN DER ANTIKE
Die eigenwillige Dynamik dieses Nachlebens wird im Mnemosyne-Atlas sichtbar, an dem Warburg ab Mitte der zwanziger Jahre arbeitete. Auf meist schwarz bespannten Holztafeln arrangierte Warburg Reproduktionen von Skulpturen, Reliefs, Fresken, Gemälden, künstlerischen und wissenschaftlichen Zeichnungen und Skizzen, Spielkarten, Zeitungsbilder und Werbegrafik. Die Arrangements in einander überkreuzenden Reihen und Konstellationen machen die Verwandlungen und Umdeutungen bestimmter Bildformeln von der Antike bis zur Moderne des frühen 20. Jahrhunderts kenntlich.
Wenn etwa die Gestalt einer tanzenden Mänade antiker Reliefs bei Ghirlandaio als schreitende Dienerin und schließlich beim Abschlag der Golfmeisterin Erika Sell-Schopp wiederkehrt, so tritt sie in Haltung und Körperumriss konstant, im semantischen Gehalt allerdings entschieden verändert auf. Die zunächst als Forschungsinstrument gedachten Bilderreihen entwickelten sich zum didaktischen Schauobjekt, aus dem eigenständige Bilderausstellungen hervorgingen.
Bilderreihen und Ausstellungen
Nach seiner Entlassung aus dem Kreuzlinger Sanatorium Ludwig Binswangers 1924 hat Aby Warburg nur noch wenige Gelegenheitsschriften veröffentlicht. Und doch waren die letzten Lebensjahre des Kunsthistorikers außerordentlich produktiv: Warburg forschte, begab sich auf Studienreisen und entwarf eine Vielzahl wichtiger Vorträge. In dieser Zeit entstanden vor allem der schließlich Fragment bleibende Mnemosyne-Atlas sowie ein gutes Dutzend von vortragsbegleitenden Bilderreihen und Ausstellungen. Art und Länge seiner Vorträge bezeugen die experimentelle Natur von Warburgs Auftritten im Laboratorium der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek. Gerade das dabei eingesetzte didaktische Medium der Bildertafel mit seinen multiplen Verknüpfungsmöglichkeiten, bei denen visuelle Simultanität an die Stelle der eindeutig gerichteten Linearität sprachlichen Nachvollzugs tritt, weist darauf hin, dass wir es bei Warburgs späten Vorträgen und den sie begleitenden Ausstellungen mit veritablen Versuchsanordnungen zu tun haben. Warburg nutzte das Format des Bilderatlas, das er zu einem ganz eigenständigen Medium entwickelte, für die polyphonen und polyfokalen Argumentationsstrukturen seiner Bildarrangements. Als offene Wissensformationen besitzen sie sowohl eine epistemische als auch eine ästhetische Dimension, ihr Layout zielt auf intellektuelle wie sinnliche Erkenntnis. Die von ihm erforschten Themen – das Nachleben antiker Kunstwerke, in denen ein existentieller Erregungszustand eingefangen ist, ihre Einlagerung ins soziale (Bild-)Gedächtnis, der andauernde Pendelschlag zwischen Aberglauben und Aufklärung – konnten in der Präsentation der Werke selbst, so Warburgs Überzeugung, anschaulicher gemacht werden als in ihrer bloß sprachlichen Deskription. Im Neben- und Gegeneinander der ausgewählten Reproduktionen sollte ein eher mechanisches kunsthistorisches Modell von Einflussbeziehungen durch eine umfassendere kulturpsychologische Theorie der Bildwanderung ersetzt werden. Aby Warburgs Bilderreihen und Ausstellungen konnten erstmals 2012 in einer kommentierten Publikation rekonstruiert werden.
GRENZGÄNGE. KUNST ALS KULTURWISSENSCHAFT
Seine Forschungen trieben Warburg weit über die Kunstgeschichte hinaus. Von den Malern der florentinischen Frührenaissance über ihre Auftraggeber und deren Bilderkulte geriet Warburg zur vergleichenden Mythenforschung, zu den Kulten der Antike und zu den indianischen Ritualen im Mittelamerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dem Verhältnis von magischem Kult und moderner Technik, von Naturreligionen und Naturwissenschaft ging Warburg auch in der westeuropäischen Tradition nach und zwar von der Astrologie des späten Mittelalters über die Mathematik der Frühen Neuzeit bis zur Technik seiner Gegenwart. Seine theoretischen Überlegungen formulierte Warburg im Rekurs auf unterschiedlichste Disziplinen, etwa der Evolutionsbiologie, Physiologie, Psychologie, Ethnologie, Religionswissenschaft, Philologie oder Linguistik. Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek ist zugleich Ergebnis und Voraussetzung für die Grenzgänge, die Warburg an den Rändern der klassischen Kunstgeschichte unternahm – in ihr ist der Zitatraum seiner Texte zur begehbaren Ordnung geworden.
BÜCHERREIHEN – SAMMELN UND AUFSTELLEN
Bereits um 1900 besprach Warburg mit seinen Brüdern den Plan, seine Privatbibliothek gezielt auszubauen und in eine öffentliche Forschungsbibliothek umzuwandeln. In den folgenden dreißig Jahren wuchs der Bücherbestand stetig an: 1911 waren es 15.000, 1920 waren es 20.000 Bände, der Neubau der K.B.W. in der Heilwigstraße 116 sollte 120.000 fassen können. Die Erfassung und Aufstellung der Bücher folgte einem eigenwilligen Strukturprinzip. Dem „Gesetz der guten Nachbarschaft“ folgend stellte Warburg Werke über die Geschichte der Naturwissenschaft neben Bücher über magisches Denken, Divination, Astrologie oder Alchemie, um den Übergang vom kultisch-magischen Denken zur modernen Wissenschaft nachzuzeichnen. Die Anordnung der Bücher karthographiert Warburgs besondere Forschungs- und Denkwege, die sich auch für andere als produktiv erweisen.
„Gesetz der guten Nachbarschaft“
Die Stichworte „Orientierung“‚ „Bild“, „Wort“ und „Handlung“ gaben eine Gliederung der K.B.W. in vier Abteilungen vor, die sich auf die vier Magazingeschosse des Gebäudes verteilen sollten – die Abfolge der Abteilungen wurde zwar mehrfach geändert, blieb in ihrem Zuschnitt aber weitgehend konstant. Unter „Orientierung“ gruppierte Warburg solche Werke, die sich mit der Stellung des Menschen im Kosmos (Aberglaube, Religion, Magie, Wissenschaft) befassen. Entsprechend fanden sich hier Arbeiten aus der Anthropologie, der Religionswissenschaft und Philosophie sowie der Geschichte der Wissenschaften versammelt. In den Abteilungen „Wort“ und „Bild“ dokumentierten Werke zur Theorie und Geschichte der Künste den künstlerischen Ausdruck dieser wechselnden Weltverhältnisse. Die Abteilung „Handlung“ erfasste schließlich Werke aus der Geschichts- und Rechtswissenschaft, aus Volkskunde und Soziologie sowie dem Theater- und Festwesen. Ein System der dreifachen Signatur nach Fachzuordnung, Textsorte und historisch-kulturellem Feld ordnete jedes Buch drei Zusammenhängen ein. Die Anordnung auf den Regalen folgte aber nicht dem Prinzip der alphabetischen Reihung, sondern dem „Gesetz der guten Nachbarschaft“, das die Nutzer auf Bücher stoßen ließ, die sie zwar nicht gesucht hatten, aber womöglich noch besser brauchen konnten als die gesuchten Werke. Die überraschende Zusammenstellung von Büchern aus unterschiedlichen Fächern sollte Brücken zwischen den Disziplinen bauen und neue Fragen, Perspektiven und Erkenntnisse ermöglichen.
DIE K.B.W. – EIN ORT DER FORSCHUNG
Die K.B.W. war seit ihrer Gründung mehr als nur eine Bibliothek. Der Lesesaal, der zugleich als Hörsaal mit entsprechender Akustik geplant war, bot Platz für Seminare des kunsthistorischen Seminars der Universität Hamburg und regelmäßige Vortragsveranstaltungen. Im regen wissenschaftlichen Austausch formierte sich, was man als „Warburg-Kreis“ bezeichnet hat: Dazu gehörten neben Studierenden der neu gegründeten Universität und den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der K.B.W. wie Fritz Saxl und Gertrud Bing auch Forscherpersönlichkeiten wie Erwin Panofsky und Gustav Pauli (Kunstgeschichte), Karl Reinhardt (Klassische Philologie), Richard Salomon (Byzantinische Geschichte), Hellmut Ritter (Orientalische Sprachen) und Ernst Cassirer, die an der Universität Hamburg lehrten. Die anhaltende Faszination, die von Aby Warburgs Gründung der K.B.W. ausging, dokumentieren nicht zuletzt die interdisziplinären Publikationsreihen der Vorträge der Bibliothek Warburg und der Studien der Bibliothek Warburg, die im Zuge der Neueröffnung des Warburg-Hauses in den 1990er Jahren wieder aktiviert worden sind.
Warburg und Cassirer
Aby Warburgs produktive Freundschaft mit dem Philosophen Ernst Cassirer begann 1924. Den Kontakt mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg hatte er nach seiner Berufung nach Hamburg 1919 schon sehr früh, 1921, aufgenommen und kontinuierlich gepflegt. Er hat hier Unmengen an Büchern ausgeliehen, und häufig wurden sie auch eigens für ihn angeschafft. Nachweisbar dürfte der Einfluss der ungewöhnlichen und ungewöhnlich reichen Bibliothek auf die Ausformung von Cassirers Theorie insbesondere in den materialen ethnologischen Beiträgen zur Philosophie der Sprache, ferner in der Philosophie des Mythos und natürlich in der Abhandlung über Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance sein, die 1927 als Band 10 in den Studien der Bibliothek Warburg erscheinen sollte und die Cassirer nicht zufällig Aby Warburg gewidmet hat.
Wir wissen, dass Aby Warburg seinen Kollegen Ernst Cassirer aus der Philosophie über die Maßen geschätzt hat. Und wir wissen, dass die hohe Wertschätzung auf Gegenseitigkeit beruhte. Warburg formulierte: „Cassirer ist ein zielweisendes Symbol für die die nach uns kommen werden, des wir doch nur die „lieutenants“ sind.“ Das Genitivpronomen „des“ bezieht sich hier offenbar auf Cassirer, und dann bedeutet die Formulierung: Wir sind doch nur seine, Cassirers, Unteroffiziere. Die Metapher weist Cassirer gleichsam seinen Posten auf dem Befehlsstand der Forschungsfront an; gleichzeitig wird mit einer anspielungsreichen Ironie, die für Warburgs Scharfsinn charakteristisch ist, der Autor der Philosophie der symbolischen Formen selbst ausgezeichnet als ein zielweisendes Symbol für die die nach uns kommen werden.
Als Aby Warburg 1929 starb, hielt Ernst Cassirer als Rektor der Universität bei der Trauerfeier den Nachruf auf einen leidenschaftlichen Forscher, der – so heißt es wörtlich: „in sich selbst und an seinem persönlichen Beispiel den großen Gedanken der Universitas litterarum klar und leuchtend vor uns hin“ gestellt habe. Auch Cassirer sieht also in Warburg ein Symbol, den exemplarischen Repräsentanten eines großen Gedankens. Und das große sich in allen seinen Forschungsfragen durchhaltende Thema sei für Aby Warburg „[d)er Gegensatz und die innere Spannung von Freiheit und Notwendigkeit“ gewesen. Deutlicher konnte Cassirer die geistige Verbundenheit mit Warburg nicht machen – denn genau dies: die innere Spannung von Freiheit und Notwendigkeit, war das systematisch durchgeführte Thema seiner eigenen Philosophie der Kultur.
EMIGRATION
1933
Nach dem Tod Aby Warburgs am 26. Oktober 1929 hatte die Kulturwissenschaftliche Bibliothek aufgrund der weltweiten wirtschaftlichen Situation zwar erhebliche finanzielle Einbußen zu verkraften, doch in Gefahr war das Forschungsinstitut erst mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten geraten. Eine Übersiedlung nach Italien, wie sie Warburg noch zu Lebzeiten gelegentlich erwogen hatte, kam 1933 aus politischen Gründen selbstverständlich kaum noch in Frage, andere Länder wurden in Betracht gezogen, und schließlich konnten die Kontakte seines Mitarbeiters Edgar Wind nach England genutzt werden, um eine Übereinkunft zur Aufnahme der Bibliothek und ihrer Mitarbeiter für zunächst drei Jahre zu erzielen.
Am 12. Dezember 1933 brach das Frachtschiff Hermia von Hamburg aus nach London auf, wo Fritz Saxl, engster Mitarbeiter Warburgs und nach dessen Tod verantwortlich für die Bibliothek, unterstützt von Lord Lee of Fareham und Sir Samuel Courtauld über das Schicksal des Forschungsinstituts verhandelt hatte. Waren die Bücher mitsamt der umfangreichen fotografischen Sammlung auf der Hermia, einige Wochen später sämtliche Regale und Gerätschaften auf einem zweiten Schiff sicher im Exil angekommen, so sollte die intellektuelle Ankunft der K.B.W. im Geistesleben der englische Metropole, die schließlich 1944 in ihrer institutionellen Eingliederung in die University of London mündete, einen intensiven Austauschprozess zwischen deutschen und englischen Forschungstraditionen anstoßen.
Aus diesem einmaligen Akt einer erzwungenen „Fernleihe“ wurde schließlich eine dauerhafte und irreversible Erfolgsgeschichte, da sich die K.B.W. in London als Warburg Institute zu einem der weltweit sichtbarsten geisteswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen entwickeln konnte. Das Hamburger Warburg-Haus und das Londoner Warburg Institute erinnerten 2013 in einer gemeinsamen Tagung sowie mit einer Publikation an die Emigration der K.B.W. und ihren Einfluss auf die englische Wissenschaftslandschaft.
Das Haus in Hamburg war bis in die 1990er Jahre Sitz verschiedener Unternehmen, unter anderem der Neue Deutsche Wochenschau Gesellschaft mbh, die hier die erste Tagesschau produzierte, einer Pharma- und einer Werbefirma. 1983 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Nach fünfzig Jahren kommerzieller Nutzung erwarb die Hansestadt Hamburg 1993 das Gebäude und renovierte es. Denkmalgerecht wiederhergestellt wurde der ovale Lesesaal, Warburgs „Arena der Wissenschaft“. Seitdem wird es als „Warburg-Haus“ wieder wissenschaftlich genutzt.
Bildnachweis
© The Warburg Institute Archive, London; Warburg-Archiv im Warburg-Haus, Hamburg