Tagebuch
28. Juli 2017 – 143. Geburtstag des Philosophen Ernst Cassirer
von Birgit Recki anlässlich des Geburtstages des großen Kulturphilosophen und Erkenntnistheoretikers
Ernst Cassirer, der sein philosophisches Werk in engem Kontakt mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und im intensiven Austausch mit ihrem Gründer entwickelte, wurde am 28. Juli 1874 als zweites von sieben Kindern des Kaufmanns Eduard Cassirer und seiner Frau Jenny in Breslau geboren. Die Cassirers waren eine weitverzweigte und prominente Familie von Kaufleuten und Industriellen. In der Generation von Ernst gab es einige bedeutende Kulturschaffende, so den Verleger Bruno und den Galeristen Paul Cassirer. Ernst promovierte 1899 in Marburg bei Hermann Cohen und Paul Natorp. Er habilitierte sich 1906 an der Berliner Universität und wurde von dort nach 13 produktiven Jahren als Privatdozent gleich nach ihrer offiziellen Gründung 1919 als ordentlicher Professor der Philosophie an die Hamburgische Universität berufen. In dem verlängerten Jahrzehnt bis 1933 entstand hier sein systematisches Werk: In der dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen (1923; 1925; 1929) und einem guten Dutzend ergänzender Abhandlungen legt er eine philosophische Anthropologie vor, die auf der Basis einer Theorie des Symbolischen konsequent als Theorie der Kultur angelegt ist: Kultur ist nicht der besondere Bereich der schöngeistigen Aktivitäten, sondern das lebendige System der Bedeutungen, durch die sich die Menschen ihre Welt schaffen. Der Mensch ist in allen seinen Leistungen und Werken animal symbolicum.
Ernst Cassirer war einer der letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts. Er hat sich seinen Namen nicht allein als Philosoph gemacht, sondern auch als Ideenhistoriker der Geistes- und Naturwissenschaften. Er war ebensosehr Erkenntnistheoretiker wie Wissenschaftstheoretiker mit engem Kontakt zur modernen Naturwissenschaft[ – über Nicolaus von Kues, Descartes, Leibniz, Kant und Goethe hat er ebenso kenntnisreich geschrieben wie über Galilei, Newton und Einstein]. Sein philosophischer Ansatz bietet aber auch methodische Anknüpfungspunkte für den Sprachtheoretiker wie den Kunsthistoriker, den Religionswissenschaftler, den Psychologen und den Politologen. In der materialreichen Kontextualisierung seiner Philosophie der symbolischen Formen hat er – insbesondere für die Theorie des Mythos im zweiten Band (Das mythische Denken, 1925) – von der Nähe zu Aby Warburg und der beispiellosen KBW sehr profitiert.
Nach der Reichstagswahl im Januar 1933 zögerten Cassirer und seine Frau Toni nicht lange: Sie verließen Deutschland im März 1933 und fanden nach einigen Stationen im schwedischen Göteborg freundliche Aufnahme. Als schwedischer Staatsbürger und emeritierter Professor der Universität Göteborg starb Ernst Cassirer am 13. April 1945 während der Wahrnehmung einer Gastprofessur an der Columbia University, New York.
In der deutschen Nachkriegsphilosophie spielte das Werk Ernst Cassirers keine große Rolle, da es wegen der Emigration auf dem Höhepunkt seines Schaffens nicht zu jener „Schulbildung“ gekommen war, die das produktive Nachleben seines Ansatzes hätte befördern können. Die wichtigsten Impulse gingen von amerikanischen Kollegen an der Yale University aus. Erst die Edition seines Nachlasses an der Humboldt-Universität zu Berlin (1995-2017) und die gleichzeitige Edition seiner Gesammelten Werke in der Hamburger Ausgabe (1997-2009) durch die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle, die im Souterrain des Warburg-Hauses ihre Räume hatte, haben eine nachholende Rezeption in dem Umfang ausgelöst, die der Bedeutung seines Werkes entspricht.
Ausgewählte Literatur:
* Peter Fischer-Appelt: Zum Gedenken an Ernst Cassirer, hg. von der Pressestelle der Universität Hamburg, 1975
* Georg Brühl: Die Cassirers. Streiter für den Impressionismus, Leipzig 1991
* Birgit Recki: Cassirer [Grundwissen Philosophie], Stuttgart 2013
- Zum Weiterlesen: Warburg und Cassirer I: Die Ellipse als visuelles Symbol der Freiheitsidee
- Zum Weiterlesen: Warburg und Cassirer II: "Symbol für die, die nach uns kommen werden"
- Aus dem Warburg-Archiv im Warburg-Haus: Ein Gedicht Erwin Panofskys an Ernst Cassirer
- Ernst Cassirer Arbeitsstelle am Warburg-Haus
Ernst Cassirer / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg