Tagebuch
Bildkarte des Monats: März
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Sedlmayrs »Palimpsest«
Das Schichtenmodell eines »großdeutschen« Kunsthistorikers
Dario Gamboni gewidmet
Ein älterer Mann mit üppigem Schnurrbart und Hut blickt uns entgegen. Die dunklen Töne des Gemäldes werden durch sein helles Inkarnat und die pastoseren, weißen Pinselstriche im Bereich des Halses durchbrochen. Dabei handelt es sich um drei dickere, parallel verlaufende Streifen, die den Eindruck von Stoff vermitteln sollen und als Kontrast zum dunklen Mantel wirken. Die breite dunkle Hutkrempe wirft tiefe Schatten bis auf die Schläfen des Mannes. Dennoch zeigt das Porträt eindeutig eine der bekanntesten Persönlichkeiten der deutschen Geschichte, nämlich Otto von Bismarck. Die Faktur des Gemäldes hingegen ähnelt einem Rembrandt (jedoch eher einem, der durch die »Brille« des 19. Jahrhunderts gesehen wurde). Zugleich aber ist das Bild mit dem Schriftzug »SEDLMAYR« versehen, der an die Signatur Franz von Stucks erinnert.
Bei diesem Namen denkt die Kunsthistorikerin, denkt der Kunsthistoriker zwangsläufig an Hans Sedlmayr. Ein Kunsthistoriker als Maler? Weder in seiner Autobiografie noch in der Fachliteratur zu dem österreichischen Kunsthistoriker ist irgendwo die Rede von einer, auch nur dilettierenden Auseinandersetzung mit der Malerei. Es könnte sich natürlich auch um einen anderen Sedlmayr handeln oder um jemanden, der absichtlich an ihn erinnern möchte. Dies scheint allerdings eher unwahrscheinlich zu sein, und sollte dies doch der Fall sein, so bekäme das Rätsel der Modi dieses Werkes noch eine weitere Dimension.
Die hier gezeigte Reproduktion entstammt einem Auktionskatalog. Wie am Vornamen und an den Lebensdaten zu erkennen ist, wird der Name Sedlmayr hier eindeutig mit dem Kunsthistoriker in Verbindung gebracht. Martin Warnke machte mich auf das Gemälde aufmerksam, da die Abbildung von ihm in den Bildindex zur Politischen Ikonographie im Hamburger Warburg-Haus eingerückt wurde. Warnke ist auch derjenige, der die Kopie zum ersten Mal in seinem Beitrag Ist das nicht Bismarck? in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. März 2013 erwähnte.
Hier geht es jedoch weniger um ein detektivisches Aufspüren dieser Informationen, sondern vielmehr um die Untersuchung der verschiedenen Modi, die in diesem Bildnis wirksam werden, die Künstlerhand (Ausführung) und die Ähnlichkeit: das Gemälde ist signiert von Sedlmayr, in der Manier Rembrandts gemalt, das Porträt Bismarcks zeigend. Und noch eine weitere Person kommt hinzu: Bei dem Bild handelt es sich nämlich um die freie Kopie eines Gemäldes Franz von Lenbachs und damit um eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert, von der bereits zu Beginn die Rede war. Sicherlich wurde der als Malerfürst bekannte Künstler und Verehrer Rembrandts von Sedlmayr geschätzt und in München eingehend studiert (er passt zumindest gut in die konservative Ästhetik des Kunsthistorikers), als er trotz studentischen Widerstands zum Ordinarius an die Münchner Universität berufen wurde, nachdem er in Wien aufgrund seiner Nähe zu den Nationalsozialisten Berufsverbot erhielt.
Wenn es sich bei der Reproduktion nicht nur um einen Ausschnitt handeln sollte, dann fokussiert Sedlmayr beinahe ausschließlich auf das Gesicht. Das Gemälde zeigt Bismarck, und obwohl die Ähnlichkeit zum Politiker vorhanden ist, wird es dadurch zu einer Art »Tronje«, zu einer Charakterstudie in Rembrandts Manier. Zugleich bleibt die Identität des Mannes mit seinen prominenten Zügen eindeutig bestehen und zwar im Gegensatz zu einer »Tronje«, bei der die Porträtähnlichkeit sekundär ist. Durch den »malerischen« Modus wird er aber gewissermaßen auch »privatisiert«, weil ihm ein informeller Ausdruck verliehen wird, was an die Debatten um Ähnlichkeiten bei den Modellen Rembrandts erinnert.
Die Erscheinung Bismarcks variiert aber auch durch die unterschiedlichen Malweisen im Original und in der vermeintlichen Kopie. Die Plastizität des Inkarnats beispielsweise, die auch durch das parallel zu den weißen halbmondförmigen Streifen verlaufende Doppelkinn entsteht, ist im Bild Sedlmayrs augenfälliger. Die »entschlossene« Geschlossenheit des Mundes oder die Augen kommen bei Lenbach auf diese Weise nicht vor. Darüber hinaus erinnert das Inkarnat an flämische Malerei, insbesondere an Rubens, den Sedlmayr bekanntlich verehrt hat. Er verfasste 1964 seine Bemerkungen zur Inkarnatfarbe bei Rubens (Hefte des Kunsthistorischen Seminars der Universität München 9-10/1964, S. 43-54). Durch die Ähnlichkeit in der Faktur der »zwei Riesen der nordalpinen Malerei« wird Bismarck von Sedlmayr zu einer künstlergleichen Persönlichkeit stilisiert. Er wurde ja als Künstler-Schöpfer seines Reiches beschrieben.
Wie bereits erwähnt, ist dieses Bild als Reproduktion auf ein Blatt Papier aufgeklebt im Bildindex zur Politischen Ikonographie zu finden und zwar bezeichnenderweise in der Rubrik »Kunstwissenschaft« (525/40). Der Grund für die Wahl dieser Abteilung fügt sich sehr passend zu den Idealen der deutschsprachigen Disziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Geist ihrer Protagonisten wie Panofsky, Riegl, Warburg und Wölfflin. Ziel der Kunstgeschichtsschreibung war es, eine strenge Wissenschaft zu werden, auch wenn in methodologischer wie theoretischer Hinsicht natürlich ganz andere epistemische Werkzeuge verwendet wurden. Sedlmayr selbst begann in seiner Jugend in Wien mit einer Strukturanalyse der Architektur Fischer von Erlachs in der Tradition Riegls.
Somit kristallisiert sich heraus, dass Sedlmayr, der Kunsthistoriker des Verlusts der Mitte (Salzburg 1948), das Porträt des Herrschers Bismarck als Kopie anfertigte und zwar der Tatsache zum Trotz, dass durch »Bismarcks kleindeutsche Lösung von 1866 Österreich aus dem Reich ausgeschlossen« wurde, was Harald Keller im Nachruf auf Sedlmayr aus anderem Grund betonte (Hans Sedlmayr. 18.1.1896-9.7.1984, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1985, S. 213-218). Sedlmayr hatte den Anschluss an das neue Deutsche Reich begrüßt, und die Begeisterung des »Rembrandtdeutschen« Julius Langbehn, der für Emil Nolde und sicherlich auch für Sedlmayr von Bedeutung gewesen sein dürfte, ist ebenfalls aufschlussreich in diesem Zusammenhang. Langbehn verglich Rembrandt mit Bismarck: Dieser habe etwas »von der Breite, Kraft und Ungezwungenheit Rembrandtscher Kunst in die deutsche Politik übertragen« (Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 1890, S. 155). Für Hubert Schrade war Langbehn bekanntlich ein explizites Modell für die eigene Kunstgeschichtsschreibung während des Nationalsozialismus, eine Tatsache, die Sedlmayr, als Deutschnationaler und Befürworter des Anschlusses sicherlich nicht unbekannt war.
Das Bild ist wie ein malerisches Manifest des Schichtenmodells Hans Sedlmayrs, das vom physiognomischen Verstehen zum anschaulichen Charakter gelangen will und der Ikonologie Panofskys nicht gänzlich fremd ist. Die Emblemliteratur scheint für beide aus unterschiedlichen Gründen eine Art Vorbildfunktion für solche Sinnschichten zu haben, die sich in Form eines Gedankenexperiments folgendermaßen bündeln lassen: Es handelt sich um einen Mann mit Hut, gemalt von Lenbach, aber an Rembrandt erinnernd; es handelt sich um den Politiker, der an der Einheit des Deutschen Reiches und an der Gründung des deutschen Staates maßgeblich beteiligt war; es ist die Hand des »großdeutschen« Kunsthistorikers, der durch die Dreiheit Lenbach-Rembrandt-Bismarck das alte Reich erneut zu vereinen glaubt.
Yannis Hadjinicolaou
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