Tagebuch
Bildkarte des Monats: Mai
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
»Auf die Franzosen schieße ich nicht …«
Max Beckmann erklärt dem Krieg den Krieg
Es gibt Zeiten der Ohnmacht, der Sorgen und Ängste, in denen die wissenschaftliche (oder die künstlerische) Arbeit in Gefahr gerät, sich selbst als sinn- und zwecklos zu erfahren. Als im Juli 1914 mitten in Europa ein Krieg ausbrach, wobei noch niemand wusste, dass er zum Weltkrieg werden würde, und auch nicht, dass es einmal nötig sein würde, ihn als »Ersten Weltkrieg« zu bezeichnen, da war sich Aby Warburg zwar seiner politischen Haltung sicher: Er vertraute auf den zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland und Italien geschlossenen »Dreibund« und versuchte durch seine Kontakte, freilich erfolglos, den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Gegner Deutschlands zu verhindern. Doch er wusste auch, wie gering sein Einfluss in diesen Fragen war. Der Kunsthistoriker beschloss daher, seine Kräfte auf neue Ziele zu lenken, und nahm mit bewährten Arbeitsmethoden den Kampf gegen die Dämonen der eigenen Psyche auf. Warburg verzettelte die ihn bedrängenden Nachrichten aus dem Krieg in einer eigens dafür angelegten Kartei und übertrug seine aus der Lektüre von Propagandaschriften gewonnenen Erkenntnisse auf das Studium religionspolitischer Konflikte der Reformationszeit (vgl. Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, Heidelberg 1920). Zuletzt jedoch hielt Warburg den Erschütterungen des Krieges und des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches nicht mehr stand, und er musste schwer erkrankt für mehrere Jahre in ein Schweizer Sanatorium eingewiesen werden.
In einer historischen Situation, in der es ungewiss ist, ob die Zählung der Weltkriege mit dem »Zweiten Weltkrieg« schon an ihr Ende gekommen ist, wie es Jahrzehnte lang – jedenfalls aus westeuropäischer Perspektive – scheinen wollte, würde Warburg heute vielleicht in den Bildindex zur Politischen Ikonographie schauen, um sich unter dem Schlagwort »Krieg« (255) einen Überblick über die historischen Bildwerdungen staatlich entfesselter Gewalt zu verschaffen. Gewiss würde er damit rechnen, dort Schlachtendarstellungen (255/45) vorzufinden, auch Allegorien des Krieges (255/5) und Ars Militaria (255/7), Kriegspropaganda (255/40) und Bilder von Soldaten (255/60), aber er wäre vermutlich überrascht, wie assoziativ die Zuordnung der Reproduktionen zu den einzelnen ikonografischen Kategorien in der Hamburger Karteikartensammlung gelegentlich erfolgt ist. Und so könnte er bei einigen zunächst irritierenden Funden feststellen, dass der Bildindex eben jenes »Gesetz der guten Nachbarschaft« beherzigt, dass Warburg selbst für die Ordnung der eigenen Buchbestände erlassen hatte (Fritz Saxl: Die Geschichte der Bibliothek Warburgs, in: Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg 1992, S. 433–449, S. 436). Zu den unvorhersehbaren Bildern, auf die man beim Blättern in der Abteilung »Krieg« stößt, ohne nach ihnen gesucht zu haben, gehören beispielsweise Franz Marcs apokalyptisches Gemälde Tierschicksale von 1913 (Basel, Kunstmuseum) oder Yves Kleins abstrakte Arbeit La grande bataille von 1960 (Seoul, Leeum Museum of Art).
An einer Stelle des Bildindex trifft man, nicht weniger erstaunt, auf eine Kaltnadelradierung Max Beckmanns, eine Darstellung von Gesichtern ohne jedes militärische oder sonstige Attribut, deren Zugehörigkeit zur Kategorie des Krieges aber nur solange überrascht, bis man den Titel der Grafik zur Kenntnis nimmt. Das Kriegserklärung genannte Blatt, entstanden ist es 1914, zeigt auf kleinem Format eine dichtgedrängte Menge an Köpfen, nichts sonst, unzählbar sind sie mit heftigen Strichen neben- und hintereinander gesetzt, sich teils überschneidend, ohne dass es zwischen ihnen zu einer irgendwie gearteten Kommunikation kommen würde. Ein Mann hält im Vordergrund eine mit wenigen Strichen nur angedeutete Zeitung, er blickt hinein, ein zweiter schaut ihm womöglich über die Schulter. Ansonsten sind die Menschen, Männer und Frauen, trotz der beengten, ja, klaustrophoben Situation vollständig isoliert dargestellt, sie stieren mit weit aufgerissenen Augen, erschreckt, fassungslos, vor sich hin, wobei die tief in die Druckplatte einkratzende Radiernadel für schwarze Akzente gesorgt hat, die durch ihren Kontrast zum hellen Papier die Wirkung des Blattes noch steigern. Immer wieder findet unser Blick zu den Augen der ins Nichts starrenden Frau in der oberen Bildmitte zurück, die der Grafiker so resolut in das Kupfer gebohrt hat, als wolle er die Dargestellte mit seinem Werkzeug blenden. Beckmann zeigt hier genau jenen Augenblick, in dem die Ankündigung des Krieges, die Nachricht von der Mobilmachung der Armee die Bürger erreicht, genau jenen Augenblick also, der sie dem medialen Kriegsgeschrei aussetzt, das auch Warburg so nachhaltig verstört hat. Keine Schlacht ist hier zu sehen, keine Waffe, kein Schützengraben, weder Tod noch Verwundung, nicht einmal eine allegorische Verklärung des drohenden »Völkerringens«, und trotzdem scheint das Entsetzen, das die Menschen erfasst hat, noch bevor der Kampf blutige Realität wird, kaum erträglich zu sein.
Max Beckmann, der zu dieser Zeit in Berlin lebte, hat sein Blatt geradezu reportagehaft angelegt. Szenen wie diese, in der die Menschen im August 1914 ihre Köpfe zusammensteckten, als Deutschland innerhalb weniger Tage erst Russland, dann Frankreich den Krieg erklärte, wird er mit eigenen Augen gesehen haben. Aber auch andere Szenen, den Jubel enthusiastischer Nationalisten, die den Krieg begrüßten, muss er wahrgenommen haben. Dass er sich dazu entschloss, nicht diesen »Hurrapatriotismus«, sondern Angst und Schrecken als Thema seiner Grafik auszuwählen, zeigt bereits die kriegskritische Haltung des Künstlers, der sich zwar, wie so viele andere, freiwillig zum Militärdienst meldete, doch dürfte es der Tatsache geschuldet gewesen sein, dass er auf diese Weise als Sanitäter an die Front kam und nicht selbst zur Waffe greifen musste: »Auf die Franzosen schieße ich nicht, von denen habe ich so viel gelernt« (zitiert nach Stephan Lackner: Ich erinnere mich gut an Max Beckmann, Mainz 1967, S. 11).
Während des Krieges musste Beckmann seine Malerei weitgehend aufgeben. Aber er zeichnete gegen die eigene Angst an, zunächst nicht ohne Faszination für die ihn umgebende existenzielle Lebensrealität, er zeichnete verletzte Soldaten, Kriegsschauplätze, Lazarettszenen und nutzte viele seiner Skizzen noch während des Krieges für druckgrafische Arbeiten: »Meine Kunst kriegt hier zu fressen« (Max Beckmann: Briefe (hrsg. v. Klaus Gallwitz, Uwe M. Schneede u. Stephan von Wiese), München 1993–1996, 3 Bde., Bd. 1, S. 118). Bereits im Sommer 1915 erlitt auch der Künstler einen Nervenzusammenbruch, wurde von der Front beurlaubt und versuchte mit dem Gemälde Auferstehung (Stuttgart, Staatsgalerie), auf dem bizarr verrenkte Körper zu einer schwarzen Sonne emporstreben, seine Kriegserfahrungen zu bewältigen – vergeblich, die Komposition blieb unvollendet. Das Entsetzen, das in den Gesichtern seiner Kriegserklärung die kommenden Schrecken schon ahnen ließ und durch die Erlebnisse an der Front noch gesteigert wurde, wollte sich mit den Mitteln traditioneller Historienmalerei nicht sublimieren lassen. Zwar veränderte sich sein Mal- und Zeichenstil, wurde härter, scharfkantiger, und seine Werke der Nachkriegszeit schleuderten den Zeitgenossen kompromisslose Gesellschaftskritik entgegen, doch schon im Augenblick der Mobilmachung wusste Max Beckmann, dass »Die letzten Tage der Menschheit« (Karl Kraus) angebrochen waren: Mit seiner Radierung schuf er die eigene Kriegserklärung an den Krieg.
Uwe Fleckner
Bilder als Akteure des Politischen II / Politische Ikonographie