Tagebuch
Bildkarte des Monats: Oktober
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Ein verzweifeltes Kind
Wie der »Bildindex zur Politischen Ikonographie« einer Geste dauerhafte Würde verleiht
Der schwarz-weiße Ausschnitt aus der Hamburger Morgenpost, der ohne Datumsangabe lediglich durch das handschriftliche Kürzel »MOPO« gekennzeichnet ist, wurde ohne begleitenden Text aus der Boulevardzeitung ausgeschnitten und auf ein weißes Blatt Papier geklebt. Links identifiziert lediglich die Angabe »Kabul«, den Ort, an dem das Foto entstanden ist; eine Stadt, die seit Jahrzehnten mit Krieg, Zerstörung und Leid assoziiert wird. Im Bildindex zur Politischen Ikonographie ist die Bildkarte unter der Rubrik »Gesten« (200) einem Schlagwort zugeordnet, das dem Betrachter schon beim ersten Anblick dieser Abbildung unweigerlich in den Sinn kommt: »Verzweiflung«.
Das Pressefoto zeigt die Halbfigur eines Kindes in engem Bildausschnitt. Der Hintergrund wird von einer Struktur unterschiedlicher Steine gebildet, einer Mauer oder eines Gebäudes, vor dem sich das dargestellte Kind abhebt. Dunkle, wirr herunterhängende Haare umrahmen sein Gesicht. Der Betrachter folgt dem Blick des Kindes nach links, mit aufgerissenem Mund scheint es auf ein entsetzliches Geschehen außerhalb des Bildes zu starren. Tiefe Furchen fassen die nach unten gezogenen Mundwinkel ein, die gesamte untere Zahnreihe ist zu sehen. Das Kind trägt einen Rollkragenpullover, dessen Falten durch einen harten Kontrast von Licht und Schatten akzentuiert werden. Die Arme sind mit offenen, nach oben gerichteten Handflächen anklagend zum Betrachter ausgestreckt. Durch die gewählte Kameraperspektive erscheinen die Hände übergroß, gemeinsam mit dem verzerrten Gesicht bringen sie die Verzweiflung zum Ausdruck, die zur Zuordnung des Zeitungsauschnitts innerhalb der Schlagwortsystematik des Bildindex geführt hat.
Hände und Kopf bilden eine Dreiecksform, wie sie kunsthistorisch in halbfigurigen Darstellungen geläufig ist. Damit erinnert die Aufnahme an byzantinische Ikonen, auch wenn es sich bei dieser Abbildung um eine Momentaufnahme aus dem realen Leben handelt, weshalb nicht von einer direkten Übernahme christlicher Ikonografie in die Komposition der Fotografie auszugehen ist. Allerdings löst der Anblick der Fotografie ein Mitleiden aus, eine emotionale Übertragung der nahsichtigen Figur auf den Betrachter. Wirken mittelalterliche Ikonen eher durch eine »leise Artikulation von Gestik und Mimik« (vgl. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 408), so ist bei diesem Bild ein Aufschrei zu sehen. Die Geste der zum Betrachter hin ausgestreckten Hände suggeriert eine erwartende, flehende Haltung, die deutlich auf etwas zeigt und gleichzeitig eine gewisse Fassungslosigkeit und Ohnmacht ausdrückt. Die Verzweiflung sprengt geradezu die strenge Dreiecksform, man ahnt, wie sich die Kinderarme entrüstet hin- und herbewegen, um auf das entsetzliche Geschehen aufmerksam zu machen.
Auch der Blick zur Seite ist mit der Komposition von Ikonen vergleichbar: »Der in die Ferne gerichtete Blick meint die Prolepsis, die Antizipation der Zukunft« (ibid., S. 410). Doch um was für eine Zukunft handelt es sich hier? Während es sich in christlichen Ikonen um eine »melancholische Vorschau auf die Passion« (ibid.) handelt, wird hier eine unerträgliche Ungewissheit illustriert, die uns durch selektierte Kriegsnarrative der Medien dennoch einen schlimmen Ausgang der Situation ahnen lässt. Als Betrachter blicken wir auf eine steinige Mauer hinter dem Kind, welche die reiche Landschaft des Landes dissimuliert und genauso begrenzend und blockierend erscheint wie die Auswirkungen dieses nun schon viel zu lange andauernden, noch immer perspektivlosen Krieges. Denn als Zuschauer medialer Informationen, die sich über die letzten Jahre in unseren Köpfen festgesetzt haben und persistente Assoziationen hervorrufen, weiß man insgeheim um die Zukunft dieses anklagenden Kindes. Als Betrachter bleiben wir in der Kluft zwischen Anteilnahme und Ohnmacht gefangen, die durch das aufgelöste Verhältnis von Nähe und Distanz der auf uns gerichteten Arme evoziert wird.
Nicht bloß die Bildkomposition offenbart eine Verbindung dieser im islamischen Raum Afghanistans entstandenen Fotografie zur christlichen Ikonografie, sondern auch eine intendierte emotionale Wirkmacht, eine compassio, die das Mitleiden an der christlichen Passion nutzt, um den Glauben während der Andacht zu bestärken. Die Intimität einer solchen Gefühlsregung wird durch den seelischen Ausdruck der abgebildeten Person auf der Fotografie vertieft. Während die Nähe und Anteilnahme der compassio ohne die religiöse Schrift nicht nachvollzogen werden könnte, wird es auch hier das Narrativ eines Textes gegeben haben, der uns im Fall des isoliert herausgeschnittenen Bildes jedoch verborgen bleibt. Die Fotografie wurde vermutlich durch einen Bericht über Gräueltaten in Afghanistan untermauert, oder – anders gewendet – das Bild bekräftigte die Nachricht und stattete sie mit Authentizität aus, weil erst die Gebärde den entscheidenden Appell an den Betrachter richtet (vgl. Elisabeth Hagenow: Propaganda per Hand. Politische Gesten auf Postkarten, in: Martin Warnke (Hrsg.): Politische Kunst. Gebärden und Gebaren, Berlin 2004 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Bd. 3), S. 53).
Die Geste der offenen, sichtbaren Handflächen vermittelt Unterwerfung und Verletzlichkeit und verbindet sich mit dem erschrockenen Blick zu einer ausdrucksvollen Chiffre größter Emotion, die eigentlich keiner textlichen Erläuterung bedarf. Ohne solche Gemütsbewegungen, die an den Körperbewegungen erkennbar werden, wären Bilderzählungen weit weniger deutlich (vgl. Wolfgang Brassat: Gestik und dramaturgisches Handeln in Bilderzählungen Raffaels, in: Margreth Egidi et al. (Hrsg.): Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, Tübingen 2000, S. 157-170, S. 158). Durch die Bewegung der aus dem Bild weisenden Arme wird die Verzweiflung des Kindes an den Betrachter übertragen, der damit zum medialen Zeugen wird, ohne dem Anblick direkt ausgeliefert zu sein. Dass Gestik als allgemeingültige Sprache dient, wurde schon früh im bewussten Einsatz von Gebärden in der antiken Rhetorik deutlich: Mit ihnen werden die Aussagen eines Redners bekräftigt (vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae. Libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher (hrsg. v. Helmut Rahn), Darmstadt 2006, 1975, Teil 2, XI.3, 85-87, S. 641 ff).
Unzählige Gesten finden sich in den Print- und digitalen Medien wie auch in den Werken der Bildenden Kunst. Kleine Gesten begegnen uns im alltäglichen Leben, um Gehörtes besser einordnen zu können, große Gesten unterstreichen Gefühlsausbrüche. Sie begleiten uns in politischen und religiösen Kontexten, und ihnen allen ist eines gemein: der Ausdruck. Damit die Botschaft dieser auf hauchdünnem Zeitungspapier gedruckten Aufnahme erhalten bleibt, wurde sie sorgfältig ausgeschnitten und auf ein festeres Blatt Papier geklebt. Wären die Dokumente des Bildindexes nicht allesamt auf Karten angebracht, hätte man vermuten können, dass das filigrane Medium, auf dem ein hilfloses Kind zu sehen ist, absichtlich auf einem belastbaren Grund stabilisiert werden sollte, auf einem Bildträger, der solch eine immense Verletzlichkeit aushält. Diese Art der Applikation ist jedoch kein Einzelfall und wird demnach nicht bedeutungstragend sein. Doch es ist wichtig, den flüchtigen Bildern eine Plattform zu geben und sie nicht im medialen Wandel verschwinden zu lassen. Das Thema der Machtübernahme der Taliban hat eine rasch verblassende Tagesaktualität, das Papier von Tageszeitungen ist kurzlebig, und dennoch gibt es mit dem Bildindex zur Politischen Ikonographie ein Instrumentarium, das solchen Bildern Dauer und dem dargestellten Kind ikonische Würde verleiht. Erst durch die Umwandlung zu einer Bildkarte wird das Zeitungsfoto zu einem nachhaltigen Medium politischer Ikonografie und damit zu einem kunsthistorisch wie -theoretisch relevantem Bild.
Ramin Massoum
Bilder als Akteure des Politischen II / Politische Ikonographie