Tagebuch
Citizen Science-Projekt: Bilder-Memory – Workshops über das politische Bildgedächtnis aktueller Pressefotografien
1., 2., 8. & 9. Juni 2023: Einladung an alle Interessierten: Öffentliches Forschungsprojekt im »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Im Juni waren alle Interessierten herzlich eingeladen zur Teilnahme an einem neuen Citizen Science-Projekt im Warburg-Haus:
Bestimmte Motive, Gesten und Darstellungsstrategien sind seit Jahrhunderten Bestandteil der visuellen Kultur. Begegnet man ihnen zufällig im Alltag, sind einem jedoch oft ihre historischen Traditionen nicht bewusst. Damit bleiben Bezüge der Bilder unklar und Aspekte ihrer Bedeutung verborgen. Der »Bildindex zur Politischen Ikonographie« (BPI) stellt ein geeignetes Instrument zur kritischen Hinterfragung und Erforschung solcher Bildtraditionen dar.
Am 1.,2., 8. und 9. Juni 2023 jeweils von 10.00 Uhr bis 15.00 Uhr lud die Forschungsstelle Politische Ikonographie interessierte Bürger:innen zu kostenlosen Workshops ins Warburg-Haus ein, um den Bildindex vorzustellen und zu benutzen. Ausgehend von Fotografien der aktuellen Presseberichterstattung wurde der Index gemeinsam nach vergleichbaren Bildern durchsucht. Die Zusammenstellung eines Bilder-Memorys deckte Motiv-Verwandtschaften auf um ein besseres Verständnis des gegenwärtigen Gebrauchs politischer Bilder zu ermöglichen. Die Ergebnisse der Workshop-Reihe sollen später in eine öffentliche Ausstellung münden.
Leitung: Laura Gronius
An den einzelnen Terminen beschäftigten sich die Teilnehmer:innen jeweils mit thematischen Schwerpunkten:
Donnerstag, 1. Juni 2023
Besucherin oder Kommandeurin? Annalena Baerbocks Feldherren-Geste an der ukrainischen Frontlinie
Kurz vor dem eigentlichen Ausbruch des russischen Angriffskrieges entstanden an der Frontlinie im Donbass mehrere Fotos von Annalena Baerbock mit kugelsicherer Weste und militärischem Gefechtshelm. Eines dieser Fotos zeigt die Außenministerin mit einem anweisend ausgestreckten Zeigefinger – eben jener Geste, mit der traditionell ein Feldherr bei der Ansprache (lat. allocutio) an seine Truppen dargestellt wurde. Der Workshop will durch Vergleiche zu historischen Darstellungen die innen- und außenpolitischen Implikationen dieser Geste im Kontext von Baerbocks Frontbesuch herausarbeiten.
Freitag, 2. Juni 2023
Visuelle Rhetorik der Gelassenheit. Olaf Scholz mit der Hand in der Hosentasche vor einem Flugabwehrkanonenpanzer des Typs »Gepard«
Nachdem Olaf Scholz vorgeworfen worden war, zu lange gezögert zu haben, entschied sich die Bundesregierung im Spätsommer 2022 für eine Panzerlieferung an die Ukraine. Am 25. August 2022 ließ sich der Kanzler daraufhin auf dem Truppenübungsplatz Putlos bei Oldenburg vor, auf und in einem Flugabwehrkanonenpanzer des Typs »Gepard« fotografieren. Auf einem dieser Fotos legt Scholz die eine Hand auf die Karosserie des Panzers, während er die andere lässig in die Hosentasche seines Anzugs steckt. In dem Workshop soll ausgehend von antiken Rhetorikern über Napoleon bis hin zu moderner Herrenmodefotografie die visuelle Entwicklungslinie dieser Geste als konventionalisierter Ausdruck souveräner Gelassenheit nachgezeichnet werden.
Donnerstag, 8. Juni 2023
Markus Söder als Moses. Die Kulturpraxis des Verkleidens in der traditionellen Herrscherikonografie
Markus Söder ist bekannt für seine extravaganten Kostüme bei der Kultsendung »Fastnacht in Franken«. 2023 verkleidete er sich als Moses und bezeichnete sich selbst – natürlich mit karnevaleskem Witz – als »Stammesvater der Bayern«. Auch wenn Söders Fastnachtskostümierung humoristisch zu verstehen ist, knüpft sie unweigerlich an eine lange Tradition der Herrscherikonografie an, in der die Selbstinszenierung im Gewand biblischer und mythologischer Figuren besonders häufig war. Durch sowohl historische als auch aktuelle Vergleiche soll Klarheit gewonnen werden über Geschichte und Wandel der Kulturpraxis des Verkleidens sowie die mit der Verkleidung bemühten Konnotationen.
Freitag, 9. Juni 2023
Der Diktator verschwindet. Denkmalstürze als politische Übergangsriten
Am 3. April 2003 ereignete sich in Bagdad eines der prominentesten Beispiele eines Denkmalsturzes der jüngeren Zeitgeschichte. Während das monumentale Bronzestandbild Saddam Husseins auf seinem hohen Sockel ins Wanken geriet, richtete sich die mediale Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf den Bagdader Firdaus-Platz. In der Berichterstattung der Massenmedien dienten die dort entstandenen Pressebilder zur Illustration der symbolischen Demontage der Macht jenes berüchtigten irakischen Diktators. Nicht jedoch erst seit 2003 gelten Denkmalstürze als hochkomplexe soziopolitische Vorgänge. Bilder solcher ritueller Angriffe auf Kunstwerke in politischen, religiösen oder gesellschaftlichen Krisenzeiten sind in der Kunstgeschichte seit der Antike belegt. Einschlägige Kategorien des »Bildindex zur Politischen Ikonographie« werden helfen, dieses vielschichtige Phänomen zu kontextualisieren.
Dynamiken der Form / Politische Ikonographie