Tagebuch
Landschaft wahrnehmen
Mit dem Warburg-Kolleg "Memorial Landscapes" in Taipeh II
Zwei Meter, vielleicht drei. Weiter wagen wir uns nicht vor die Türe des Hotels, bis uns der peitschende Wind mit zerzausten Haaren wieder zurückgehen lässt. In Taipeh fegt der Taifun. Während des Wirbelsturms lassen die staatlichen Vorgaben das öffentliche Leben brachliegen, Schulen und Geschäfte bleiben zwei Tage lang geschlossen und führen auch im Warburg-Kolleg zu Programmänderungen. Jenseits des Fensters lässt sich die Stadt durch die Wassermassen hindurch oft nur noch erahnen. Immer wieder unterbrechen die Gespräche unter den Teilnehmenden des Kollegs, um auf den Sturm zu hören, um auf das heftig bewegte Blätterwerk draußen zu blicken. Am Tag nach dem Taifun lässt uns diese eigene Erfahrung der Naturkräfte nicht ganz los. Mehrfach kommen wir in der Seminardiskussion auf verschiedene mögliche Sinneserfahrungen der Natur zu sprechen. Landschaft wahrnehmen, das heißt Landschaft sehen, aber auch hören und fühlen, riechen und schmecken. Diese multisensorische Landschaftswahrnehmung hinterlässt ihre Spuren auch in der Landschaftsmalerei. Fließende, durchsichtige, kaum greifbare Form – Lianming Wang (Heidelberg) geht dem Element des Wassers in seinem Vortrag zu Brunnen und hydraulischen Anlagen im frühneuzeitlichen China nach. Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung von Wasser in der daoistischen Kosmologie zeigt er, dass die Wahrnehmung des Fluiden über das Betrachten hinausgeht und in „Wasserlandschaften“ verschiedene Sinneseindrücke gleichermaßen angesprochen werden. Im Zusammenspiel von Architektur, Skulptur und hydraulischer Technik transformieren die Brunnenanlagen in chinesischen Palastanlagen vielfach europäische Modelle wie etwa Georg Andrea Böcklers 1664 gedruckte „Architectura Curiosa Nova“ und lassen die Formungen des Wassers zu einem Ort werden, an dem sich westliche und östliche Naturwahrnehmung und Naturformung eng überlagern. Formwandlungen zwischen verschiedenen Kunsträumen geht auch Yoonsung Seo (Berlin) in ihrer Auseinandersetzung mit Landschaftsmalerei in der koreanischen Chosŏn-Dynastie aus dem 18. Jahrhundert nach. Erinnerungsbilder an historische Ereignisse und Begegnungen verorten die Bildfiguren in idealisierten Landschaften. Anstelle einer mimetischen Evokation des jeweiligen Ereignisortes werden dazu Vorlagen aus der chinesischen Bild- und Texttradition übernommmen und Landschaften von China nach Korea verlagert. Die Landschaft im Bild wird nicht nur durch die memoria an die dargestellten Personen aufgeladen, sondern dient auch als Speicher der kulturellen Auseinandersetzung mit den chinesischen Landschaftsbild. Nicht nur schriftlich und bildlich fixierte Wissensbestände haben ihren Platz in den Bild-Landschaften – sondern auch Pilze. In seinem Vortrag zur Sakraltopographie des chinesischen Wuyi-Gebirges macht Yu-chuan Chen (Stanford) deutlich, dass sich beim Sammeln von Pilzen und Heilkräutern eine ortsspezifische Beziehung zwischen Landschaft und Mensch manifestiert, welche um spirituelle Qualitäten aufgeladen und bildstiftend werden kann. Landschaft wahrnehmen, das gilt nicht nur für Augen, Ohren und Hände, sondern auch für den Magen.
Isabella Augart
Warburg-Kolleg