Tagebuch
Neuerscheinung DVD »Rather Die Than Die« von Natacha Nisic
Ein Film der Pariser Künstlerin über Aby Warburg und den I. Weltkrieg, der zum Teil im Warburg-Haus gedreht wurde
Für ihren jüngsten Film »Plutôt mourir que mourir« / »Rather Die Than Die« (Eher Sterben als Sterben), eine Auftragsarbeit des französischen Kulturministerium unter Federführung des Centre national des arts plastiques aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Endes des I. Weltkrieges 2018, wählte Natacha Nisic, die 1967 geboren wurde und an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs in Paris, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und an der Fémis Paris studierte, die Figur Aby Warburgs als Ausgangspunkt. Nach einer Erstausstrahlung auf Arte im Dezember 2017 und Vorstellungen mit Diskussionsrunden etwa zu Jahresbeginn im Louvre im Rahmen der 11. Internationalen Kunstfilmtage und im Februar im Deutschen Historischen Institut Paris ist der Film nun vom Centre national des arts plastiques und a.p.r.e.s. éditions als DVD herausgebracht worden.
Am 16. April stellt Natacha Nisic ihren Film persönlich im Warburg-Haus vor und spricht im Anschluss mit Dr. Susanne Gottlob (Hamburg) und Benjamin Fellmann (Warburg-Haus) über ihre Arbeit und Warburg. Das Screening des Films in Kooperation mit flexibles Flimmern – das mobile Kino wird am 17. April wiederholt.
»Rather Die than Die« begibt sich auf die Spuren des ersten Weltkrieges indem er zwei narrativen Perspektiven folgt, die sich in der Person Aby Warburg kreuzen und damit einen ganz eigenen Blick auf den ersten Weltkrieg eröffnen, der auch bis heute weniger bekannte Aspekte beleuchtet.
Perspektiven auf den I. Weltkrieg mit Aby Warburg und den Indianern Nordamerikas
In ihrem Film greift Nisic sowohl die Indianer Nordamerikas und ihren Einsatz im I. Weltkrieg, als auch Warburgs Reaktion auf den I. Weltkrieg und seinen Vortrag über die Kultur der Pueblo-Indianer in Nordamerika auf, den er, knapp dreißig Jahre nach seiner Amerika-Reise, 1923 in der Heilanstalt Bellevue des bekannten Psychiaters Ludwig Binswanger in Kreuzlingen hielt, wo er sich zwischen April 1921 und August 1924 aufhielt. Insbesondere Hopi kämpften in den alliierten Truppen, für die sie sich überwiegend freiwillig meldeten, 1917 und 1918 in der Picardie und an der Somme. Über den Klinik-Alltag des Patienten Warburg, auf den der I. Weltkrieg so nachhaltig gewirkt hatte, wiederum gibt es detaillierte Notizen Ludwig Binswangers. Der Film nimmt den erzählerischen Faden auf, indem er schildert, wie Warburg sich bei einer Halluzination bei den Hopi-Indianern wiederfindet.
1895 begab sich Aby Warburg auf eine Amerika-Reise, die ihn bis 1896 auch in die Gebiete der Pueblo-Indianer im Südwesten der Vereinigten Staaten führte. Er zeigte sich überzeugt, dass der Zusammenhang zwischen heidnisch-religiösen Vorstellungen und künstlerischer Tätigkeit bei den Pueblo-Indianern in herausragender Weise erkennbar sei und das Studium ihrer Kultur höchst aufschlussreich sei zur Entstehung symbolischer Kunst.
Fast drei Jahrzehnte später griff er diese Erfahrung direkt auf in seinem berühmten Vortrag zum »Schlangenritual«. Den Vortrag Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika hielt Aby Warburg am 21. April 1923 in der Privatklinik Binswangers.
Wirkung des I. Weltkrieges auf Warburg
Während des I. Weltkrieges hatte Warburg die Aktivitäten seiner Bibliothek dahin ausgerichtet, dass eine »Kriegskartothek« entstand, mit einer Sammlung von Ausschnitten und Propagandamaterial zum ersten Weltkrieg und der Verzettelung von Tageszeitungen. Nach Kriegsende verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Ab 1921 hielt er sich in der Privatklinik Binswangers auf. Der Ausgang des ersten Weltkrieges spielte dabei eine Rolle. In den Worten Ulrich Raulffs: „Über Ausbruch und Verlauf von Warburgs Krankheit ist wenig bekannt, und man mag mit gutem Recht der Ansicht sein, daß dies so bleiben sollte. Feststeht, dass der Erste Weltkrieg und sein Ausgang, die deutsche Niederlage und der Sturz der Monarchie, wesentlich dazu beigetragen haben, Aby Warburg um sein seelisches Gleichgewicht zu bringen“.[1]
Den Vorschlag, den Vortrag am 21. April 1923 vor den Ärzten und Patienten der Klinik zu halten, unterbreitete Warburg Binswanger als sich Besserung einstellte, mit dem Gedanken unter Beweis zu stellen, dass er wieder zum wissenschaftlichen Arbeiten fähig sei und damit bald in sein gewohntes Umfeld an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg zurückkehren zu können. Nach seiner Rückkehr 1924 fiel der Entschluss zum Neubau des Gebäudes der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, dem heutigen Warburg-Haus, die 1926 feierlich eröffnet wurde. Bis zur Verschiffung der Bibliothek und allen Archivmaterials nach London 1933 zur Rettung vor den Nationalsozialisten, bestand mit dem während der Kriegsjahre gesammelten Material hier bereits ein Archiv zur politischen Propaganda des Ersten Weltkrieges, mit dem „die mobilisierende Wirkkraft der Agitation unmittelbar in ein historisches Forschungsprogramm umgesetzt“ wurde.[2]
Natacha Nisic hat selbst vor fünfundzwanzig Jahren eine Reise zu den Pueblo-Indianern unternommen, damals ganz unabhängig von Warburg und seiner Auseinandersetzung mit den indianischen Kulturen auf seiner Amerikareise. Dass sie nun aus Anlass ihrer Befassung mit dem I. Weltkrieg nach einem Besuch im Warburg Institute in London begann, sich intensiv mit Warburg auseinanderzusetzen, lässt die historische Koinzidenz auch wie eine notwendige Konsequenz im künstlerischen Werk erscheinen.
Umfangreiche Dreharbeiten im Warburg Institute, London, und im Warburg-Haus Hamburg
Für den Film realisierte Natacha Nisic schließlich die bis heute umfangreichsten Dreharbeiten im Warburg Institute, London. Es ist das erste Mal, dass im Warburg Institute und seinem Archiv so umfangreich gefilmt wurde. Teile des Films entstanden auch im Warburg-Haus Hamburg, dessen berühmter elliptischer Lesesaal einen zentralen Platz im Film einnimmt. Im Begleitbuch, das der DVD beiliegt, schreibt Nisic:
„We returned to this space many times over, repeating the path which took our gaze from the audience to the projection space. Warburg’s theatre of madness plays on a sense of repetition and variation. Over the course of the film, the theatre of the library mutates from reading room to lecture hall to screening room to hearing chambers.”[3]
Ihr Film reiht sich damit ein in ein Werk, in dem die Künstlerin seit Jahren auf vielfältige Weise die Beziehung zwischen Bildern, Worten, Interpretationen, Symbol und Ritual erforscht. Ihre Arbeiten verweben Erzählungen, Berichte von Vergangenheit und Gegenwart, um der Komplexität der Beziehungen zwischen dem Gesprochenen und dem Unausgesprochenen und dem Substrat der Erinnerung zwischen dokumentarischem Wert und Verlust nachzugehen. Ihre Arbeiten hinterfragen den Status von Bildern und die Möglichkeiten der Repräsentation durch den Gebrauch von verschiedenen Medien: Super 8, 16 mm, Video, Fotografie und Zeichnung. 2001 und 2016 hatte sie eine Residenz in der Villa Kujoyama und 2007 war sie Stipendiatin der Villa Medici in Rom. Sie hat in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in Frankreich, Japan, Italien, Deutschland, Spanien, dem Vereinigten Königreich, Korea und Argentinien ausgestellt, darunter im MACRO Rom und im MNAM Centre Georges Pompidou Paris. Wichtige Einzelausstellungen hatte sie u.a. im Le plateau – FRAC Île‑de‑France, Paris (2003), Musée Zadkine, Paris (2005), im Atelier Hermès in Seoul (2012, mit Park Chan-Kyong) und im Jeu de Paume, Paris (2013/14). Im Mémorial de la Shoah, Paris, sind ihr Film La porte de Birkenau und eine raumgreifende Installation von Photographien, Le Mémorial des enfants, zu sehen, die sie 2005 für die Dauerausstellung realisierte.
Benjamin Fellmann
[1] Ulrich Raulff: Nachwort, in: Aby M. Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, hg. v. Ulrich Raulff (1988), Berlin 1992, S. 63-94, S. 63.
[2] Martin Warnke: Bildindex zur politischen Ikonographie, mit einer Einführung von Martin Warnke, Hamburg: Forschungsstelle Politische Ikonographie, Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Hamburg 1996, S. 11.
[3] Natacha Nisic: Rather Die than Die, text im Booklet zur DVD, 2018, S. 23.
DVD Plutôt Mourir que Mourir / Rather Die than Die (2018)
66 Minuten, französische und englische Sprachversion
Centre national des arts plastiques und a.p.r.e.s. éditions, Paris
Mit einem Booklet (40 S.) mit Texten von Natacha Nisic und Annette Becker in Französisch und Englisch
Plutôt Mourir que Mourir / Rather Die than Die, F 2017, 66 min.
Regie, Aufnahmen, Montage : Natacha Nisic
Musik: Philippe Langlois
Ton: Nicolas Waschkowski
Produktion: Seconde Vague Productions, in Zusammenarbeit mit Arte – La Lucarne
Neuerscheinungen / Politische Emotionen