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Das Werk des
Philosophen Ernst Cassirer
in der ›Hamburger
Ausgabe |
Ein Bericht von Birgit Recki |
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Seit dem Sommersemester 1997 existiert an der Universität Hamburg die
Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle. Unter der Leitung von Prof. Dr.
Birgit Recki, die zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Professur am
Philosophischen Seminar der Universität auch die wissenschaftliche
Betreuung und Herausgeberschaft einer erstmaligen Gesamtausgabe der Werke
Ernst Cassirers übernahm, arbeiten dort nach neuesten werkeditorischen
Standards vier Mitarbeiter an der geplanten Ausgabe: Tobias Berben, M.A.,
Julia Clemens, M.A., Claus Rosenkranz, M.A. und Dr. Reinold Schmücker. Die
Hamburger Ausgabe der Gesammelten Werke wird in 25 Bänden das zu
Lebzeiten veröffentlichte Werk des Philosophen enthalten und im Felix
Meiner Verlag erscheinen. Im Dezember 1998 erschien dort bereits Band 1,
Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Cassirers
erstes selbständiges Werk aus dem Jahre 1902, in das er seine 1899
abgeschlossene Dissertation über Descartes' Kritik der mathematischen
und naturwissenschaftlichen Erkenntnis als Einleitung integrierte. Im
Sommer Sommer 1999 erschienen dann in kurzem Abstand die beiden nächsten Bände
folgen: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit
Bd. 1 (1906) und Bd. 2 (1907), die beiden ersten Bände des von Anfang an
als langfristige Forschungsaufgabe auf mehrere Bände angelegten Werkes zur
philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie. - Der
folgende Beitrag verbindet den Bericht über die
Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle und die Hamburger Ausgabe mit
einer Erinnerung an das Leben und Werk des Philosophen. |
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Inhalt |
I. Ernst Cassirer - sein Werk und Wirken (1874-1945)
1. Das philosophische Werk
2. Der politische Zeitgenosse
II. Die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle und die Hamburger Ausgabe
Literatur zur Einführung |
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I. Ernst Cassirer - sein Werk und Wirken (1874 - 1945) |
1. Das philosophische Werk |
Ernst Cassirer war unter den ersten, die 1919 an die neugegründete Reform-Universität Hamburg
berufen wurden. Der damals 45jährige war nach seiner Habilitation 1906 bis
dahin ohne Ruf geblieben und hatte sich als Privatdozent an der Berliner
Universität auf ein zurückgezogenes und produktives Forscherleben
eingestellt. Dabei war bereits ein eindrucksvolles philosophiehistorisches
Werk zustande gekommen: die große Interpretation zu Leibniz' System in
seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), die gelehrten Schriften
zur Geschichte des Erkenntnisproblems (1906; 1907 u.ö.), die
bahnbrechende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Studie
Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), die Edition der Werke
Immanuel Kants (seit 1912), die er 1918 mit der Monographie über Kants
Leben und Lehre abrundete, und die geistesgeschichtlichen Studie
Freiheit und Form von 1916 - dies waren die Arbeiten, die vorlagen.
Damit war Cassirer zum Zeitpunkt seiner Berufung im Grunde bereits der
kenntnisreiche und umsichtige Interpret, der Bewahrer der philosophischen
Tradition, den wir heute - mit Jürgen Habermas - als »einen der letzten
Universalgelehrten des Jahrhunderts« schätzen. |
Doch die Hamburger Jahre zwischen 1919 und 1933 brachten zu dem
bereits Erreichten noch eine produktive Steigerung, der wir jenes
selbständige systematische Werk verdanken, dessen Anschlußfähigkeit
und Produktivität für unsere gegenwärtigen Fragen - nach den Weisen
der Welterzeugung und den
Wirklichkeiten, in denen wir leben, nach dem Verhältnis von
Natur und Kultur, von Sprache und Bewußtsein - heute nicht
allein in der Philosophie wahrgenommen wird, sondern zunehmend auch in
den Geistes- und Kulturwissenschaften mit ihrem interdisziplinären
Bemühen um Verstehen und Orientierung in den komplexen Zusammenhängen
der menschlichen Lebenswelt. |
Mit seiner
Philosophie der symbolischen Formen legte Cassirer in den zwanziger
Jahren den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, die
sich nicht als eine spezielle Bindestrich-Disziplin, als die Theorie
eines besonderen Bereiches menschlicher Interessen (der Hoch-Kultur)
versteht, sondern als eine bedeutungstheoretische Lehre von der
Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen. Diese
Kulturphilosophie ist nicht weniger als eine allgemeine philosophische
Anthropologie auf symboltheoretischer Grundlage. Wir können nach
diesem Ansatz nur dann überhaupt begreifen, was der Mensch ist,
wenn wir an seinem Wirken nachvollziehen, was er tut. Und was
der Mensch tut, läßt sich in allem als Symboltätigkeit begreifen, als
Gestaltung und Verstehen von Bedeutung. Nach Cassirers tragender
Einsicht ist die Kultur die ganze Wirklichkeit des Menschen. Denn der
Mensch ist das Wesen, für das aufgrund seines reflexiven Bewußtseins
alles - von der einfachen Wahrnehmung bis zu den höchstentwickelten
Werken - mit in letzter Instanz selbsterzeugtem Sinn verbunden ist:
Der Mensch ist das animal symbolicum, das symbolerzeugende
Wesen. »Kultur« meint somit nichts anderes als den Inbegriff und das
System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch Symbolisierung.
Mit diesem grundsätzlichen und ganz allgemeinen Ansatz wäre aber noch
wenig gewonnen zum Verständnis der Komplexität und Differenzierung, in
der Kultur immer schon besteht, wenn ihm nicht von Anfang an auch ein
Konzept der ganzen funktionalen Vielfalt kultureller Formen beigegeben
wäre. Mit der inneren Einheit zugleich die Pluralität der Kultur zu
begreifen, ist genau der Anspruch, den sich Cassirer in der
Philosophie der symbolischen Formen gestellt hat. Ihm geht es
ebenso sehr darum, daß sich die Sinntätigkeit der Symbolisierung nicht
auf eine einzige Gestaltungsweise zurückführen läßt, sondern sich in
einer Pluralität von Gestaltungsweisen auslegt - wie um die Einsicht,
daß diese Pluralität nicht in einer chaotischen und beliebigen
Unendlichkeit, sondern in einem gegliederten, irgendwie systematischen
Zusammenhang besteht. Kultur ist demnach keine Monokultur, sondern
prägt sich aus in einer Vielfalt von Gestaltungsbereichen -
aber sie ist auch kein beliebig auftürmbares Aggregat, sondern ein
System von Gestaltungsweisen. |
Cassirer nennt die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der
Symbolisierung, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet oder einer
eigenständigen Methode gleichsam institutionalisieren, »symbolische
Formen«. Als Beispiele symbolischer Formen führt er zumeist die
mythisch-religiöse Welt, die Sprache, die Kunst und die Wissenschaft
an und erläutert, daß sich in ihnen allen »das Grundphänomen«
ausprägt, »daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck
des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer
freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.« Schon in
einer so allgemeinen und aufs Ganze gehenden Formulierung ist das
theoretische Leitmotiv dieser Philosophie der Kultur zu erkennen: Die
symbolische Leistung ist aus der Freiheit, und zwar aus der Freiheit
des tätigen Geistes, also des Bewußtseins zu verstehen. Im Hinweis auf
diese Freiheit ist auch die letzte Antwort auf die Frage zu sehen, mit
der Cassirer in seinem ganzen Werk ringt - auf die Frage des
systematischen Zusammenhangs, also: der Einheit von Kultur. Die
gemeinsame Funktion aller Kultur ist in der Befreiung zu sehen - und
zwar in dem Sinne, daß es Freiheit - vorausgesetzt wir
verstehen unter dem Begriff das, was wir normalerweise darunter
verstehen - nach Cassirers Einsicht gerade nur in der Vermittlung
geben kann; nur die Vermittlung durch alle möglichen Formen der
vergegenständlichenden Aneignung (Bilder, Gestalten, Begriffe) gewährt
uns mit der Distanz von den Zusammenhängen, in denen wir sind,
zugleich die Verfügung, ohne die ein Spielraum der Reflexion und damit
ein Handlungsspielraum nicht möglich wäre. In diesem Sinne ist Kultur
»der Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen«. |
Dem genauen historischen wie systematischen Verständnis dieses
Prozesses in seinen vielfältigen Formen ist die Philosophie der
symbolischen Formen gewidmet, die in den drei monographischen
Studien zur Sprache, zum Mythos als Lebensform und zur Wissenschaft
als der organisierten Form der Erkenntnis in den Jahren 1923, 1925 und
1929 erscheint. Wir wissen, daß dieses Werk wohl ohne die enge
freundschaftliche und wissenschaftliche Verbindung zu Aby Warburg und
seinem beispiellosen Projekt zur Erforschung des Nachlebens der Antike
- und das heißt der geistesgeschichtlichen Grundlagen unserer Kultur -
gar nicht denkbar wäre. Schon 1920 hatte Cassirer die
Kulturhistorische Bibliothek Warburg und 1924 auch Aby Warburg
persönlich kennengelernt und war seitdem in deren akademisches
Veranstaltungsprogramm gut integriert. Als die Bibliothek 1926 in ihr
eigenes Gebäude in die Heilwigstraße eingezogen war, hielt Cassirer am
1. Mai die Eröffnungsrede. Die sachliche und freundschaftliche
Kooperation war für beide Seiten förderlich. Toni Cassirer hat in
ihrem Rückblick auf das gemeinsame Leben anschaulich erzählt, daß in
den 20er Jahren jedesmal zu Ende des Semesters, wenn die Cassirers in
die Ferien aufbrachen, die Hilfskräfte der Bibliothek Warburg in
großen Wäschekörben die Bücher abholten, die Ernst während des
Semesters zur privaten Nutzung bei sich zu Hause gehabt hatte. |
Bis hoch in die 30er Jahre arbeitet Cassirer die Grundgedanken
seines philosophischen Opus magnum in einer Vielzahl von Vorträgen und
Aufsätzen weiter aus. Daneben wendet er sich wiederholt dem
Erkenntnisproblem und der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft
wieder zu, und immer wieder aufs neue widmet er sich in gelehrten
Studien den großen Epochen der abendländischen Tradition. So
erscheinen 1920 der dritte Band der Arbeit über Das
Erkenntnisproblem, 1921 die erkenntnistheoretischen Betrachtungen
Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, 1927 das Epochenwerk zu
Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1932
außer dem Buch über Die Platonische Renaissance in England und die
Schule von Cambridge auch Die Philosophie der Aufklärung. |
Diese Konstellation der Publikationen ist für Cassirers Denken in
mehrfacher Weise bezeichnend, denn wie er in systematischer Hinsicht
eine Konkurrenz zwischen den Geisteswissenschaften und den
Naturwissenschaften entschieden ausschließt und daher auch in den
wissenschaftlichen Interessen die Alternative zwischen
Kulturphilosophie und Naturwissenschaften für unstatthaft hält - sein
Kulturbegriff steht unter anderem auch für die Einsicht, daß die
Naturwissenschaften zur Kultur gehören -, so bilden historisch nach
der Antike die Renaissance und die Vernunftaufklärung des 18.
Jahrhunderts die »prägnanten Punkte« in der Entwicklung der
abendländischen Kultur, auf deren gedankliche Erträge der Zeitgenosse
der Moderne verpflichtet bleibt. |
2. Der politische Zeitgenosse |
Doch selbst mit dem Hinweis auf die Weite des Horizonts, der mit diesem Spektrum
philosophischer Forschungsinteressen eröffnet ist, sind noch nicht alle
wichtigen Aspekte an Cassirers Werk und Wirken erfaßt. Bezeichnend für
sein Denken und sein geistiges Profil sind auch die sichere politische
Urteilskraft und das ungewöhnliche Engagement, die er als Zeitgenosse der
Krisen des 20. Jahrhunderts gezeigt hat. Es kann uns nicht überraschen,
daß ein Denker, der den Begriff der Freiheit derart seiner gesamten
Theorie der menschlichen Wirklichkeit zugrundelegt, auf Freiheit auch im
engeren politischen Verständnis Wert legt. Wir finden in Cassirer denn
auch insofern einen gänzlich untypischen Vertreter der Gelehrtenzunft im
ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik, als er sich nicht nur
unter anderem auch mit den Problemen der politischen Theorie
auseinandergesetzt hat, sondern zugleich ein wachsamer politischer
Zeitgenosse von großer Geistesgegenwart und Urteilskraft war - ein
Aufklärer auch hier. Einen ausgeprägten weltbürgerlichen Sinn für die
politische Kultur zeigt bereits der Autor von Freiheit und Form,
der sich 1916 - mitten im Ersten Weltkrieg - als Europäer exponiert, indem
er die tragenden Ideen der deutschen Philosophie und Dichtung in
geistesgeschichtliche Kontinuität dem italienischen und französischen
Denken seit der Renaissance stellt. Noch nachdrücklicher verfolgt Cassirer
den politischen Impetus zur lebendigen Vergegenwärtigung einer
europäischen Kultur in einem kleinen und scheinbar nebensächlichen, dabei
als Dokument aus finsteren Zeiten höchst bedeutsamen Text - in der Rede,
die er im Hamburger Senat im August 1928 zur Feier des zehnten Jahrestags
der deutschen Verfassung gehalten hat: Die Idee der republikanischen
Verfassung. Die Rede des Mannes, der ein Jahr später, im akademischen
Jahr 1929/30, Rektor der Universität Hamburg sein sollte, ist ausdrücklich
gegen die völkischen und antidemokratischen Bewegungen jener Zeit
gerichtet, die in der Demokratie eine westliche Eigentümlichkeit sehen
wollen, welche dem deutschen Nationalwesen fremd wäre. Cassirer zeigt hier
durch die ideengeschichtliche Genealogie des modernen Verfassungsgedankens
und der damit verbundenen Idee vom unveräußerlichen Naturrecht des
Individuums, daß es deutsche Philosophen waren - Leibniz und Wolff -, die
mit der Idee der Freiheit und der gleichen Rechte in maßgeblicher Weise
die Befreiungsbewegungen des 18. Jahrhunderts in Amerika und in Frankreich
beeinflußt haben. Die These besagt auch, daß ein wesentliches Merkmal der
deutschen Philosophie, die auch hier wieder in Kontinuität mit dem Denken
der anderen europäischen Nationen gerückt wird, gerade der allen
Nationalismus übersteigende universalistische Impetus der hier
entwickelten Ideen sei. Cassirer gibt sich damit aber vor allem selbst als
Verfechter der allgemeinen Menschenrechte zu erkennen: Und auf diese Weise
artikuliert er sich in einer Zeit, in der der Verfassungsgedanke und mit
ihm der Parlamentarismus bereits in der Krise waren, nachdrücklich als ein
vom europäischen Gedanken durchdrungener Verfassungsdemokrat. |
Ein weiteres Mal
sollte sich die Bemühung um die philosophische Integration Europas
wiederholen in seiner großen Monographie über die Philosophie der
Aufklärung, wo er auch die Bewegung der Vernunftaufklärung des 18.
Jahrhunderts über die nationalen und regionalen Grenzen hinweg als ein
europäisches Projekt beschreibt. Dieses Buch charakterisiert ebenso wie
die gelehrten Studien zum Humanismus der Renaissance mit Cassirers
philosophischen Interessen zugleich sein politisches Profil. Der
Erkenntnis und vernünftigen Einsicht verpflichtet, liberal und tolerant,
mit einem Wort ein Aufklärer ist Cassirer Zeit seines Lebens gewesen. |
Dieser im Kontext der
politischen Philosophie zur Geltung gebrachten Einstellung entsprach eine
ungewöhnlich schnelle Auffassungsgabe und ein wachsames Urteil in den
Dingen der aktuellen Politik. Nach den alltäglichen Erfahrungen mit dem
politischen Klima seit dem Ende der 20er Jahre brauchten Ernst und Toni
Cassirer nicht lange, um die Konsequenz aus den Wahlen im Januar 1933 zu
ziehen: Sie verließen Hamburg - die Universität, der Cassirer in der
produktivsten Zeit seines Schaffens zugehört hatte, und das Haus in der
Blumenstraße 26 - im März 1933. Danach lebten die Cassirers zunächst in
England (Oxford), danach in Schweden (Göteborg), zuletzt in den USA (Yale
und New York). Hier entstanden unter anderem das Werk über
Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936),
die für Fragen der praktischen Philosophie wichtige Schrift über Axel
Hägerström (1939), An Essay on Man (1944) und das posthum
erschienene Werk The Myth of the State (1946). |
Am 13. April 1945
starb Ernst Cassirer als schwedischer Staatsbürger in New York auf dem
Gelände der Columbia University an Herzversagen. |
II. Die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle und die Hamburger Ausgabe
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Durch die Bedingungen des Lebens und Schaffens in der Emigration, als schwedischer
Staatsbürger und Professor und als New Yorker Gastprofessor ist das Werk
Ernst Cassirers in einer Folge von Einzelausgaben auf uns gekommen. Selbst
die wichtigsten Werke vor der Ausreise ins Exil haben keine von Cassirer
betreute Neuauflage erfahren, und eine nach einheitlichen Prinzipien
veranstaltete Gesamtausgabe letzter Hand konnte es unter diesen Umständen
erst recht nicht geben. Diesem Desiderat soll die Hamburger Ausgabe
der Gesammelten Werke abhelfen, die es mit dem reichen und umfangreichen
Lebenswerk zu tun hat - mit den Schriften aller Textgattungen, die zu
Lebzeiten erschienen bzw. für den Druck autorisiert worden sind. |
Die Hamburger Ausgabe verdankt sich einer beispielhaften Kooperation der Universität
Hamburg, des Felix Meiner Verlages und der Wissenschaftlichen
Buchgesellschaft Darmstadt, der ZEITStiftung Gerd und Ebelin Bucerius und
der Warburg-Stiftung: Am Philosophischen Seminar konnte die
Wiederbesetzung einer Professur mit der Aufgabe der wissenschaftlichen
Betreuung der geplanten Edition verbunden werden. Im Mai 1997 wurde in der
Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle das Werk in Angriff genommen. Die
günstigen institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen Cassirers
Hauptwerk durch die exklusive Nutzung der Kulturhistorischen Bibliothek
Warburg entstehen konnte (s.o., I.1), finden heute eine Fortsetzung
und Entsprechung in der Tatsache, daß die Arbeitsstelle zur Hauptsache in
Räumen untergebracht ist, die dem Editionsprojekt von der Warburg-Stiftung
unter dem Dach des Warburg-Hauses, Heilwigstraße 116, zur Verfügung
gestellt werden. Dort arbeiten Tobias Berben, M.A., Marcel Simon und
Dagmar Vogel, M.A., an der Hamburger Ausgabe. Diese drei
Mitarbeiter werden aus Drittmitteln der ZEITStiftung Gerd und Ebelin
Bucerius finanziert. Ein weiterer Mitarbeiter, Dr. Reinold Schmücker,
arbeitet auf einer aus HSP 3-Mitteln dem Projekt zugewiesenen C1-Stelle im
Philosophischen Seminar an der Ausgabe mit. Die Computer-Ausstattung wurde
dem Editionsprojekt im Rahmen der Warburg electronic library von
der TH Harburg (Leitung Prof. Dr. H. Schmidt) zur Verfügung gestellt. |
In der Arbeitsstelle werden die Schriften Ernst Cassirers neu herausgegeben. Die
Mitarbeiter bearbeiten in Kooperation und Beratung mit der Leiterin der
Arbeitsstelle jeweils einen Band in eigener Verantwortung. Die Texte
werden, jeweils nach der letzten von Cassirer autorisierten Auflage,
eingescannt, in Orthographie und Interpunktion nach dem Duden (20. Aufl.)
konsequent modernisiert, alle offenkundigen Druckfehler werden
stillschweigend korrigiert. |
Die Gesammelten Werke in der Hamburger Ausgabe sind zwar keine historisch-kritische
Ausgabe, doch ist der Recherche-Aufwand gleichwohl erheblich. Wir haben in
Ernst Cassirer in der Tat einen der letzten Universalgelehrten des
Jahrhunderts. Mit dieser Wertschätzung seines Werkes ist zugleich ein
Problem für dessen editorische Aufarbeitung thematisiert. Wer das Werk
dieses Autors in einer heutigen Ansprüchen genügenden Leseausgabe
herausgeben und damit dem Desiderat einer einheitlichen Gesamtausgabe
Abhilfe schaffen will, der hat es mit Tausenden von Zitaten zu tun. Alle
Zitate werden nach der Ausgabe verifiziert, die Cassirer selbst seiner
Arbeit zugrunde gelegt hat. Die Arbeit bezieht sich daher zu einem
beträchtlichen Anteil auf seltene Werke und Erstausgaben, die nicht
verschickt oder kopiert, sondern nur am Ort ihres Besitzstandes eingesehen
werden dürfen. Für die Mitarbeiter der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle
bedeutet dies nach umfangreichen und zeitaufwendigen Recherchen und
Bestellungen zumeist noch einen bemerkenswerten Aufwand an jeweils
mehrtägigen Bibliotheksreisen - unter anderem nach Berlin, Göttingen,
Halle, Leipzig, London, München, Wolfenbüttel. Der Korrekturaufwand wird
zudem dadurch erhöht, daß Cassirer wie nicht wenige Gelehrte seiner
Generation häufig aus dem Kopf - und dabei recht frei - zitiert und viele
Zitate auch ohne Seitenangabe gibt. Alle Angaben werden so weit wie
möglich vervollständigt. Cassirers eigenen Übersetzungen aus
fremdsprachigen Texten wird in der Hamburger Ausgabe jeweils in
Fußnoten die originalsprachliche Textstelle hinzugefügt. Dabei werden alle
von den Bandbearbeitern vorgenommenen Ergänzungen durch eckige Klammern
kenntlich gemacht. Jedem Band der Ausgabe wird ein vollständiges Register
der zitierten Schriften sowie ein Sachregister beigegeben. |
In der letzten Produktionsphase arbeitet das gesamte Team zusammen, um das Manuskript in
den schlußredaktionellen Arbeiten zur Satzreife zu vollenden: Gemeinsame
Kontrolle aller Zitate und Anmerkungen, kooperative Korrekturlektüre,
Beratung über die »Zweifelsfälle« der Textbearbeitung. |
Allein für die drei ersten Bände mußten auf insgesamt 1.800 Seiten ca. 15.000
Modernisierungen in Orthographie und Interpunktion vorgenommen werden. Bei
den zusammengerechnet rund 3.000 Fußnoten wurden etwa 4.200 Verweise auf
676 unterschiedliche Titel aus einem Erscheinungszeitraum von 1482 bis
1910 überprüft, korrigiert und bearbeitet. Über das Internet wurden
Bibliotheksbestände im gesamten Bundesgebiet und im europäischen Ausland
gesichtet, um die von Cassirer zitierten Werke in der jeweiligen Ausgabe
ausfindig zu machen. Für das erste, nur 18 Monate nach Aufnahme der Arbeit
erschienene Buch über Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen
Grundlagen (ECW 1) waren 1.300 Textnachweise zu überprüfen, davon 800
Zitate, bei deren Kontrolle sich ca. 20.000 Korrekturen als erforderlich
erwiesen. Für diese Arbeiten mußten ca. 250 Schriften und Kopien beschafft
werden; insgesamt waren sieben Reisen zu auswärtigen Bibliotheken
erforderlich. Für den im Spätsommer 1999 erscheinenden ersten Band des
vierbändigen Werkes über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und
Wissenschaft der neueren Zeit (ECW 2) mußten ca. 300 verschiedene
Titel gesichtet oder in Kopie beschafft werden, von denen zwei Drittel vor
dem 19. Jahrhundert erschienen sind. Originalsprachliche Zitate in
altgriechischer, lateinischer, französischer und italienischer Sprache
mußten überprüft, korrigiert und, wenn Cassirer nur seine eigene
Übersetzung angeführt hat, im Originalwortlaut hinzugefügt werden. Durch
die Beifügung originalsprachlicher Zitate einerseits und rein editorische
Anmerkungen andererseits ist bei diesem Band die Anzahl der Fußnoten von
817 auf 978 angestiegen. |
Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, bis heute eine der
wenigen Gesamtinterpretationen zu Leibnizens Philosophie, hat nach dem
Erscheinen 1902 keine weitere Auflage erfahren. Das Werk war über
Jahrzehnte vergriffen und antiquarisch nur zu Sammlerbedingungen
erhältlich. Für die Cassirer-Forschung wie für die
Philosophiegeschichtsschreibung ist dieses Werk von grundlegendem
Aufschlußwert, da hier bleibende methodische und sachliche Orientierungen
Cassirers zum erstenmal markant zutage treten. Obwohl er die dogmatische
Fixierung des Marburger Neukantianismus schon früh in seinen breiten
geistesgeschichtlichen Studien und nachhaltig vor allem in seinem
kulturphilosophischen Ansatz überwunden hat, bleibt Cassirer in seinen
tragenden erkenntnistheoretischen und praktischen Einsichten Kantianer.
Die frühe Ausprägung seines Kantianismus zeigt sich deutlich in der
Rekonstruktion der Erkenntnisproblems nach dem Fortschrittsvektor einer
Kulmination in der kritischen Philosophie Kants - sie zeigt sich aber auch
schon in Leibniz' System, in dem das Denken des großen
Rationalisten nicht allein als die systematische Entwicklung von
Funktionsbegriffen rekonstruiert wird (selbst der Begriff der Substanz ist
hier schon als Funktionsbegriff gefaßt!), sondern auch als Kritizismus
avant la lettre. |
Mit der nach langer Zeit erneuten Verfügbarkeit dieses philosophischen Erstlingswerkes
ist ein erster Schritt zur Rezeption eines durch die Bedingungen des Exils
über lange Zeit vernachlässigten und unterschätzten philosophischen
Lebenswerkes getan - und zur Auseinandersetzung mit seinen systematischen
Impulsen. |
Literatur zur Einführung: |
-
Toni Cassirer:
Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981;
-
Andreas Graeser: Ernst Cassirer, München 1994;
-
John Michael Krois: Ernst Cassirer 1874 - 1945, in: Hamburgische Lebensbilder 8 (ders.
/ Gerhard Lohse / Rainer Nicolaysen: Die Wissenschaftler Ernst Cassirer
- Bruno Snell - Siegfried Landshut), hg. vom Verein für Hamburgische
Geschichte, Hamburg 1994, 9 - 40;
-
Heinz Paetzold: Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische
Biographie, Darmstadt 1994;
-
Dorothea Frede / Reinold Schmücker (Hrsg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur
und Philosophie, Darmstadt 1997.
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