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Prof. Dr. Ernst Wolfgang Orth |
Fachbereich Philosophie, Universität Trier |
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Ernst Cassirer und die Kulturbedeutung der Wissenschaften |
Auf den ersten Blick scheint Cassirers Werk von einer eher mimetischen -
nachvollziehenden - Zugangsweise bestimmt zu sein, nicht sosehr von
kritischer Stellungnahme. Er versteht es, die unterschiedlichsten
wissenschaftlichen Konzeptionen sinnvoll und als Dokumente von
Sinnhaftigkeit darzustellen. Selbst außer- und vorwissenschaftliche
Weltverständnisse erhalten bei seinem Verfahren eines verständnisvollen
Nachvollzugs jeweils die ansprechende Gestalt innerer Stimmigkeit.
Cassirers Haltung ist hier selbst diejenige eines Kulturbetrachters, der
aus einer Position eigener, hoher Kultiviertheit heraus alle möglichen
Manifestationen aus der Welt des Geistes zu würdigen versteht. Zu dieser
Welt gehören auch - wenn nicht die Natur - so doch die
Naturwissenschaften. Und zu deren wissenschaftshistorischem und
wissenschaftstheoretischem Verständnis hat Cassirer neben seinen
kulturphilosophischen Arbeiten im engeren Sinn Beachtliches beigetragen.
Man ist versucht, seine Konzeption einer Philosophie der symbolischen
Formen oder der symbolischen Formung selbst als eine Art
wissenschaftsdidaktischer Orientierung zu charakterisieren, die nichts
anderes will, als der Aufgabe eines philosophischen Gelehrten und
Universitätslehrers zu dienen, nämlich der Vielfalt wissenschaftlicher
und außerwissenschaftlicher geistiger Weltverständnisse gerecht zu
werden, ohne gleich für bestimmte Positionen Partei ergreifen zu müssen.
Was letztlich wahr und falsch ist, bleibt dabei allerdings oft offen und
ist Sache möglicher Entwicklungen der Forschung und dann immer abhängig
von bestimmten speziellen Auffassungsbedingungen, die es eben
nachzuverstehen gilt. Der breiten und gelassen-unparteiischen
Orientierung eines Gelehrten und Hochschullehrers mitten in der Kultur
wird damit optimal Genüge getan. Aber wie steht es um die eigene
Philosophie des Verfassers, um seinen eigenen, sachlich-systematischen,
szientifischen Wahrheitsanspruch? |
Kein geringerer als Husserl, der Cassirer hoch schätzte, hat das
Problematische an Cassirers Philosophie herausgestellt. In einem Brief
vom 1.2.1922 schreibt Husserl an Paul Natorp: |
»Cassirer ist der in sich vollendete Meister; so Schönes, Wirksames,
Historisch-Lehrreiches in Form einer ideengeschichtlichen Darstellung
wird in deutscher Sprache so bald nicht wieder geschrieben sein, als
wie in Cassirers Erkenntnisproblem... Und alles was er bot und bietet,
ist schön und gut. Aber sein Philosophieren ist - so hoch er die
sonstige Universitätsphilosophie allgemein zu reden überragt - doch
nicht melétä thanátou, ein persönliches Ringen um Leben und Tod, ein
Kranksein in eigenster geistiger Not und ein Gesundwerden in ... der
Entbindung eigenster (›originaler‹) Gedanken. Vielleicht ist das
feinsinnige Miterleben mit fremder Originalität, das liebende
Nachverstehen, die Kraft des außerordentlichen Historikers. Also
seiner Art Größe soll nicht nahegetreten sein.« (Briefwechsel V, S.
147 f.; Zitat Phaidon 81a). |
Husserl scheint hier durchaus eine Schwäche von Cassirers Philosophie
erkannt zu haben. Cassirer ist Kulturphilosoph - zunächst im Sinne der
Auffassung wissenschaftlicher Konzeptionen als kultureller und
geschichtlicher Erscheinungen (eine Forschungsrichtung, die durchaus
einen wohldefinierten, methodischen Sinn haben kann, aber vor der
systematischen Wahrheitsfrage Halt zu machen scheint). |
Gleichzeitig will Cassirer aber auch ein Kulturphilosoph eines ganz
anderen Typs sein, in dem Sinne nämlich, daß Kulturphilosophie die
Rolle einer prima philosophia, einer ›Ersten Philosophie‹ erhält. Aber
noch zwei andere ungeklärte Gegensätze lassen sich dingfest machen. So
tritt einerseits Kultur bei Cassirer als ein Name für
Weltverständnisse überhaupt auf, ja für die Wirklichkeit schlechthin;
andererseits ist Kultur der Name für den Inbegriff bestimmter
Erscheinungen in Konfrontation zu anderen. Und schließlich gibt es bei
Cassirer auch ein nicht abschließend geklärtes Spannungsverhältnis
zwischen Kultur und Anthropologie, obwohl doch die Vermutung nahe
liegt, daß es sich bei Kultur und Anthropologie um zwei korrelative
Begriffe handelt. Denn: wer Kultur sagt, sagt auch Mensch, und wer
Mensch sagt, sagt auch Kultur. |
Ein eigentümlicher Befund mit Blick auf Cassirers Werk ist es nun, daß
unterschiedliche Positionen, die wir etwa seit 1920 - dem erstmaligen
Auftreten der Konzeption einer Philosophie der symbolischen Formen -
erkennen, nicht einfach entwicklungsgeschichtlich, d.h.
werkgeschichtlich verständlich gemacht werden können. Vielmehr finden
wir zwischen 1920 und 1945 immer wieder die gesamten Varianten z.B.
der Begriffsverwendung (oft auch im selben Buch) nebeneinander. |
Zunächst hat Cassirer bereits 1923 im ersten Band der Philosophie der
symbolischen Formen die Konzeption einer Philosophie der Kultur als
›erster Philosophie‹ proklamiert. Er schreibt: »Die Kritik der
Vernunft wird... zur Kritik der Kultur« (PhsF I, S. 11). Und er meint
damit nicht das, was man besonders im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts in Deutschland ›Kulturkritik‹ nennt, sondern er schließt
an Kants ›Vernunftkritik‹ an, d.h. an Kants wissenschaftlicher Analyse
des Verstandes, die allererst als Fundament eines möglichen
wissenschaftlichen Weltverständnisses dienen könne. Deshalb kann er -
durchaus im Anschluß an Kant - ausdrücklich empfehlen, daß »nicht
sowohl vom allgemeinen Weltbegriff, als vielmehr vom allgemeinen
Kulturbegriff« auszugehen sei (PhsF I, S. 11). Weltbegriff und
Kulturbegriff sind nämlich nach Cassirer offensichtlich konvertibel.
Das ist - im Anschluß an Kant - allerdings nur möglich aufgrund einer
modifizierenden Kantinterpretation. Was dies eigentlich bedeutet,
erfahren wir jedoch erst in einem Essay Cassirers aus dem Jahre 1938
›Zur Logik des Kulturbegriffs‹. Hier schließt Cassirer an Kants
berühmtes Diktum an: »Der stolze Name einer Ontologie... muß dem
bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen«
(KdrV A, 247 / B, 303; WWS, S. 228). Das heißt:
Wirklichkeitsverständnisse können nicht traditionell ontologisch
gewonnen werden - unter Voraussetzung eines indifferent vorliegenden
Seins, das es nur abzubilden gilt, - sondern zunächst sind subjektive
Wirklichkeitsauffassungen zu untersuchen, vor allem die Formen solcher
Auffassungen. Insoweit folgt Cassirer Kant. Er modifiziert Kant
jedoch, indem er hinzufügt: es gehe nun aber nicht mehr nur um eine
Analyse des ›reinen Verstandes‹, sondern um »den ganzen Kreis ›des
Weltverstehens‹«, um »die verschiedenen Potenzen« und »geistigen
Grundkräfte«, die unsere Weltauffassungen ausmachen. Erst die
nachkantischen Geisteswissenschaften hätten - so Cassirer -
zusätzliche Paradigmen solcher gelebten Weltverständnisse thematisiert
und der Analyse zur Verfügung gestellt (WWS, S. 228). Das führt -
neben der Modifikation Kants - auch zur Modifikation der
neukantianischen Position Cohens, daß vom Faktum der strengen
Wissenschaften auszugehen sei. Nicht bloß vom »Faktum der
Wissenschaften«, sondern über das »Faktum der Geisteswissenschaften«
ist nunmehr auch vom Faktum der vor- und außerwissenschaftlichen
Weltverständnisse auszugehen (WWS, S. 228). In diesem Sinne sei nun
auch die Philosophie der symbolischen Formen als »Prolegomena zu einer
künftigen Kulturphilosophie« aufzufassen (WWS, S. 229). |
Die Kulturphilosophie ist hier in der Tat keine spezielle
Bindestrich-Philosophie, sondern eine neu etablierte kritische
philosophia prima unter den Bedingungen von Wissenschaftsentwicklungen
des 19. und 20. Jahrhunderts. Gleichwohl wird Cassirer 1942 in seinen
›fünf Studien‹ ›Zur Logik der Kulturwissenschaften‹ (LKw) durchaus
wieder den engeren Kulturbegriff positiv benutzen, um ihn der Natur
und dem naturwissenschaftlichen Verfahren entgegenzustellen. Gemäß
einschlägiger Textstellen aus der ›Logik der Kulturwissenschaften‹ ist
die Philosophie der symbolischen Formen zwar der Versuch, »jeder
Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Recht
zuzuerkennen und sie in ihrer Eigentümlichkeit zu begreifen« (LKw, S.
20). Aber diese Aufgabe scheint keine bloß kulturphilosophische mehr
zu sein. Denn Cassirer fügt ausdrücklich hinzu, es gehe der
Philosophie der symbolischen Formen um das »Problem der Objektivität
in seiner ganzen Weite«. Und dieses Problem »umspannt... nicht nur den
Kosmos der Natur, sondern auch den der Kultur« (LKw, S. 20). Der
Kosmos der Natur und der Kosmos der Kultur werden also unterschieden.
Die Philosophie, die sich auf beides bezieht, wäre demgemäß keine
Kulturphilosophie, sondern eine Form wissenschaftstheoretischer
Besinnung, die die wohl zu unterscheidenden Begriffe Natur und Kultur,
Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften festzuhalten hätte. Aber
der Titel des Beitrages, aus dem wir hier zitiert haben, lautet ›Der
Gegenstand der Kulturwissenschaft‹ und damit scheint zunächst ein kulturaler Philosophiebegriff impliziert zu werden. Möglicherweise
jedoch haben wir hier falsch gelesen und falsch interpretiert. Denn
der Titel der Aufsatzsammlung im Ganzen lautet ›Zur Logik der
Kulturwissenschaften‹, nicht der ›Kulturphilosophie‹. Es bleibt dann
zwar immer noch die Frage, warum der erste Aufsatz nicht den Plural
verwendet. Der Titel ›Der Gegenstand der Kulturwissenschaft‹ im
Singular insinuiert das Verständnis des Allgemeinbegriffs und
motiviert dazu, darunter Philosophie zu verstehen. Es ist jedoch
festzuhalten, daß die drei folgenden Titel (Nr. II ›Dingwahrnehmung
und Ausdruckswahrnehmung‹, III ›Naturbegriffe und Kulturbegriffe‹, IV
›Formproblem und Kausalproblem‹) alle mit dem expliziten oder
impliziten Unterschied von Naturwissenschaften und
Kulturwissenschaften arbeiten. |
Nun könnte man die hier auftretenden Schwierigkeiten im Sinne eines
Terminologieproblems durch eine entsprechende Interpretation beheben,
indem man unterstellt, Cassirer habe einen doppelten Kulturbegriff
verwendet und damit nur dem allgemeinen Sprachgebrauch Rechnung tragen
wollen. Sein Thema waren die Kulturwissenschaften und ihre
Konstitution in Gegenüberstellung zu den Naturwissenschaften. Dabei
ist evident, daß man Natur von Kultur und spezielle
naturwissenschaftliche Verfahren von speziellen
kulturwissenschaftlichen Verfahren unterscheiden muß. Ist dies
geschehen, dann darf man allerdings sehr wohl die Naturwissenschaft -
wenn auch nicht die Natur - als ein Kulturphänomen betrachten. Und die
Philosophie, die dann noch einmal Wissenschaften - welcher Art immer -
thematisiert, darf dann in einem wohlverstandenen Sinne als
›Kulturphilosophie‹ begriffen werden. Ja, man kann, wenn man den
Weltbegriff schlechthin als das Ergebnis einer menschlichen
Verständnisleistung versteht, den Naturbegriff selbst als einen
Grenzbegriff des Kulturbegriffs ansehen. Die Welt ist die Welt des
Menschen (Kultur), weil sie nicht nur die menschliche Wirklichkeit als
solche bezeichnet, sondern jede Wirklichkeit umgreift, insofern
Wirklichkeit nur thematisch wird, als der Mensch sie thematisch
gemacht hat. Das ist eine Interpretation, die mir durchaus auf der
Linie von Cassirers Absichten zu liegen scheint. Aber, er hat sie
selbst nicht - und schon gar nicht systematisch - durchgeführt.
Insbesondere vermißt man bei Cassirer eine Diskussion der Homonymität
(ja Metaphorizität) unseres Kulturbegriffs und die Bearbeitung des
möglichen Problems, das dahintersteckt. |
Wie wäre es, wenn es mit dem Kulturbegriff - zumal seit dem Ende des
19. Jahrhunderts - ähnlich bestellt wäre, wie mit dem Seinsbegriff des
Aristoteles? Gibt es vielleicht ähnlich dem Problem des polachos
legetai to on oder der analogia entis eine analogia culturae? Das
würde metaphysische Perspektiven des Kulturbegriffs erschließen, die
bei Cassirer zwar im Spiel sind, aber nicht abschließend analysiert
werden. |
Immerhin findet sich in den Beiträgen ›Zur Logik der
Kulturwissenschaften‹ der Ansatz einer verständlichen Homonymie des
Kulturbegriffs. Kultur als Wirklichkeitsverständnis setzt ichliche
Aktivität voraus, die sich zudem gehaltlich und medial manifestiert.
Cassirer unterscheidet demgemäß den »Ich-Pol« von dem »Gegenstands-Pol« (LKw, S. 39). Aber der Gegenstands-Pol ist nach
Cassirer in zweifacher Weise auffaßbar: Er kann ein aliud (ein Es)
sein oder ein aliud eigener Art, nämlich ein »alter ego«, d.h. ein »Du« (LKw, S. 39). Das Es, das ein indifferentes aliud ist, ist
gleichsam eine Variante des Du, in welchem die subjektive (kulturale!)
Aktivität gleichsam gegen Null gestellt ist. Cassirer verweist hier
ausdrücklich auf eine Interpretation des naturwissenschaftlichen
Verfahrens bei Erwin Schroedinger: »Die Ausschaltung des Personalen,
auch im Weltbild der Physik«, könne »niemals absolut gelingen«,
sondern sie sei »nur als ein Grenzbegriff der naturwissenschaftlichen
Methode anzusehen« (LKw, S. 47; vgl. Schroedinger: Quelques remarques
au sujet des bases de la connaissance scientifique, Scientia/Mars
1935). Etwa zur selben Zeit wie an der ›Logik der
Kulturwissenschaften‹ arbeitet Cassirer an einem Text, der gemeinsam
mit anderen aus 1928, 1995 posthum unter dem Titel ›Zur Metaphysik der
symbolischen Formen‹ herausgegeben wurde. Hier faßt er das Problem
unter dem Titel ›Basisphänomen‹, resp. ›Basisphänomene‹. Das
Basisphänomen hat einen dreifachen Bedeutungsaspekt - Erleben, Wirken
in Interaktion und Werk -; und so wird auch oft im Plural von
Basisphänomenen gesprochen. Das Theorem von den Basisphänomenen will
lediglich die Unhintergehbarkeit des Gegebenen als Synthesis von Ichlichem, Wirkendem und Werkhaftem feststellen (also ganz analog zu
der oben genannten Ununterscheidbarkeit von Symbol und Gegenstand).
Trotzdem wird Cassirer in seinem ›Essay on Man. An Introduction to a
Philosophy of Human Culture‹ von 1944 immer noch in einer
irritierenden Weise von der Welt als dem ›universum symbolicum‹
sprechen (EM, S. 229): Denn manchmal scheint er damit die Welt als
Ganze, d.h. als Inbegriff aller möglichen naturwissenschaftlichen und
kulturwissenschaftlichen sowie außer- oder vorwissenschaftlichen
menschlichen Weltdeutungen zu verstehen, manchmal ist es aber auch nur
das Universum der Naturwissenschaften einerseits oder das Universum
der Kulturwissenschaften resp. der Geisteswissenschaften andererseits.
Zugegeben, es scheint alles auf ein ›symbolisches Universum‹
hinauszulaufen, dessen Einheit auf den symbolischen Funktionen des
Menschen schlechthin beruht, der als animal symbolicum (EM, S. 26)
figuriert. Den fundamentalen Charakter dieses symbolischen
Funktionierens hatte Cassirer in seiner Aufsatzsammlung ›Zur Logik der
Kulturwissenschaften‹ benannt: »Die Zweiteilung: Symbol oder
Gegenstand erweist sich ... als unmöglich, da die schärfere Analyse
uns lehrt, daß eben die Funktion des Symbolischen es ist, die die
Vorbedingung für alles Erfassen von ›Gegenständen‹ oder Sachverhalten
ist« (LKw, S. 31) (man könnte hier von dem ›Satz der Kulturalität‹
sprechen). |
Aber wie sind dann die gravierenden Unterschiede innerhalb des
allgemeinen symbolischen Universums zu verstehen, die ja nicht zu
leugnen sind und die auch Cassirer nicht übersieht, sondern
ausdrücklich zu berücksichtigen empfiehlt? Man ist versucht - mit
Cassirer - die kurze und bündige Antwort zu geben: Die gehaltlichen
Unterschiede ergeben sich aus unterschiedlichen funktionalen
Symbolisierungsrichtungen des Menschen selbst. Immer wieder verweist
Cassirer auf das Tun als einen entscheidenden Strukturverhalt des
Menschen, auf die ›geistigen Energien‹, die von ihm ausgehen. Aber
gerade auch im ›Essay on Man‹ macht er die These stark, daß keinerlei
substantielle Einheit des Menschen vorausgesetzt werden darf (EM, S.
222). Wir erkennen den Menschen nur im Spiegel seiner Kultur. Es gibt
nur eine »definition of man in terms of human culture« (EM, S. 63
ff.). Zwar ist der Mensch ein Inbegriff von geistigen Energien, von
geistigem Leisten; aber wir erfassen ihn nur am Beispiel der
Leistungen, der konkreten Manifestationen seines Tuns, eben in den
Gestaltungen der Kultur, die im übrigen immer über den einzelnen
Menschen hiansugehen. Es scheint, daß die symbolische Form (als
Gestalt) wichtiger wird als die symbolische Formung (als Funktion). |
Damit hat bei Cassirer die Kulturphilosophie genau jenen Charakter
angenommen, den man mit Leslie A. White Kulturologie nennen kann (vgl.
den gleichnamigen Artikel in International Encyclopedia of the Social
Sciences Vol. 3, New York 1968). Obwohl White die Kulturologie als
einen Zweig der Anthropologie bestimmt, ist sie im einzelnen nach ihm
gerade nicht von speziellen menschlichen Seins- oder Verhaltensformen
her zu erfassen. Die Antwort auf die Frage, was die Kultur bestimmt -
so White - ist: sie bestimmt sich selbst. Kultur muß als ein Prozeß
sui generis verstanden werden und ist vom Anthropomorphismus und
Anthropozentrismus freizuhalten (l.c. 548/2, 550/2). |
Diese kulturologische Einstellung ist zumindest ein wichtiger Aspekt
von Cassirers Begriff der symbolischen Form. Anthropomorphismus und
Anthropozentrismus werden auch bei Cassirer kritisiert, so merkwürdig
dies auch im Blick auf den Kulturbegriff, ja auf das Kulturphänomen
scheint; denn Kultur ist doch ein Korrelatbegriff zu demjenigen des
Menschen. Aber Cassirers Anthropomorphismus- und
Anthropozentrismuskritik richtet sich nicht gegen die zentrale
Thematisierung des Menschen, sondern gegen die einseitige
fundamentalisierende Festlegung von Menschenbildern. Und
Menschenbilder sind verfehlt, wenn sie den Menschen außerhalb jeder
symbolischen Formung, sozusagen diesseits derselben zu erfassen
suchen. Deshalb empfiehlt Cassirer schon 1920 in seinem Einstein-Buch
einen ›kritisch-transzendentalen Anthropomorphismus‹ (S. 116). Damit
scheinen wir uns aber im Kreise zu drehen. Wir kehren also wieder
zurück zu der zirkulären Behauptung, der Mensch sei nur im Spiegel der
symbolischen Formen, d.h. im Spiegel der Kultur zu erfassen - und
diese nur aus den wirkenden Energien des Menschen zu verstehen. |
Hier hat Cassirer allerdings eine subtilere These entwickelt, die wir
im dritten Band der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ vorfinden,
also 1929. Der Mensch ist demnach nicht nur in die symbolischen Formen
oder in die Kultur hineingestellt, aus denen heraus er dann zu
verstehen wäre, ein Gesichtspunkt, den man allerdings immer
berücksichtigen und anwenden muß. Aber vielmehr gilt: solches
Verstehen ist nur möglich, weil der Mensch selbst immer schon eine
symbolische Form ist, ja geradezu das Paradigma einer symbolischen
Form darstellt. In diesem Sinne kritisiert und interpretiert Cassirer
das traditionelle Leib-Seele-Verhältnis. Dieses - ontologisch zwar
verfehlte - Modell ist ja nur - so Cassirer - der unbeholfene Versuch,
die eigentümliche conditio humana zu erfassen, nämlich sowohl
naturhafter Organismus als auch Anspruch auf Sinn und Bedeutsamkeit zu
sein. Cassirers neue Bestimmung lautet nun: »Das Verhältnis von Leib
und Seele stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine reine
symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in
eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder
ein Innen und Außen, noch ein Vorher und Nachher, ein Wirkendes oder
Bewirktes...« (PhsF III, S. 117). In diesem Lichte muß man auch
Cassirers These aus ›An Essay on Man‹ von 1944 lesen, der Mensch sei animal symbolicum (EM, S. 26). Mit anderen Worten könnte man sagen:
Beim Menschen als symbolische Form handelt es sich um den elementaren
und fundamentalen Fall eines Aggregates für die Einheit von Medium und
Bedeutung. Es ist übrigens dieser Zusammenhang, in dem Cassirer auch
die Merleau-Pontysche Formel »Inkarnation des Sinnes« (PhsF III, S.
109) - sozusagen avant la lettre - verwendet. |
Mit der Bestimmung des Menschen als einer eigentümlichen Realität, die
selbst eine symbolische Form, ja das elementare Paradigma einer
solchen ist, wird die Rolle der Anthropologie für die
Kulturphilosophie, auch für die Kulturphilosophie als prima
philosophia, erneut bestätigt, ja besser begründbar. Die neue
Kulturphilosophie dürfte jetzt durchaus auch Kulturanthropologie
heißen (obwohl dieser letztere Begriff vielfach vergeben ist). Diese
neue Bestimmung hat aber bei Cassirer zwei Aspekte, auf die ich hier
eingehen möchte. Es handelt sich um einen logischen und einen
naturphilosophischen Aspekt. |
1. Der logische Aspekt besteht darin, daß alle symbolische Bestimmung,
und damit auch die Begriffsbildung, vom Menschen nicht nur als Täter,
sondern als Paradigma ausgehen muß. Wenn der Mensch das erste volle
Symbol ist, die erste wirkliche Symbolgestalt, dann verdankt sich alle
Symbolbildung diesem Paradigma. Überraschenderweise folgt Cassirer
hier einer Argumentation, die sein Lehrer Hermann Cohen im
Zusammenhang einer ethischen Interpretation des Sokrates entwickelt
hat. In seiner ›Ethik des reinen Willens‹ (Berlin 21907, S. 3) führt
Cohen aus: »Als die Lehre vom Menschen ist die Ethik die Lehre vom
Begriffe des Menschen. Indem Sokrates im Menschen die Ethik erdachte,
entdeckte er zugleich den Begriff. Im Begriffe des Menschen entdeckte
er den Begriff.« Cassirers Argumentation ist formal dieselbe; neu ist,
daß sein Begriff des Menschen eine speziellere anthropologische
Auszeichnung durch das Theorem der symbolischen Formung erhält.
Cassirers Auffassung hat auch eine Folge für seine nähere Bestimmung
dessen, was Begriff ist. Für Cassirer entwickelt sich der Begriff,
gerade auch in seinem Allgemeinheitsanspruch, in seiner Tendenz auf
Universelles, aus dem Individuum, d.h. aus der bedeutsamen
Individualität, soweit diese eben selbst symbolische Form ist. In
seinen Studien zu ›Mythos und Sprache‹ (1925) kommt das in seiner
Lehre von der »radikalen Metapher« zum Ausdruck (WWS, S. 148).
Demgemäß sind die scheinbar nur eigentümlichen Bedeutungen, die ein
lebendiges Individuum (z.B. im Mythos) denkt oder durchlebt, als
solche bereits Formen möglicher Verallgemeinerung. Das Universelle ist
in der Tat des Individuums angelegt, das heißt: »die Gattung, in die
der Übergang erfolgt, wird selbst erst erschaffen.« (WWS, S. 148). Mit
dem Übergang (vgl. Metapher) ist hier der Prozeß der Begriffsbildung
gemeint, der sich aus individuellen Verständnissen und fundiert in
individuellen Verständnissen durchaus schon von Anfang an mit der
Tendenz auf Universelles erweitern kann. Das ist natürlich nur
möglich, wenn solches Individuelles selbst als ein symbolisches
Paradigma aufgefaßt wird. Anregungen für die Entwicklungen eines
solchen Allgemeinbegriffs könnte Cassirer allerdings auch von seinem
ehemaligen Lehrer, Georg Simmel, erfahren haben. Simmel hat
beispielsweise in seinem Rembrandt-Buch von 1916 ›Arten des
Allgemeinen‹ unterschieden (117 ff.) und dabei »die Allgemeinheit
dieser Individualität selbst« im Zusammenhang der Ästhetik des
Portraits beispielhaft erörtert. Ein wichtiger Hintergrund dieser
Auffassung bei Simmel ist dessen Lehre vom »individuellen Gesetz«. Die
Leistung Cassirers ist es, Cohensche und Simmelsche Motive über eine
kulturanthropologische Verarbeitung für eine rationale Konzeption von
Begrifflichkeit nutzbar gemacht zu haben. Begriffsbildung ist ein
symbolisches, und das heißt: mediales Übertragungsgeschehen (Metaphorizität). |
2. Der naturphilosophische Aspekt, der sich aus Cassirers Theorem von
der ursprünglichen symbolischen Relation, die der Mensch selbst sei,
ergibt, läßt sich im ›Essay on Man‹ sowie in den Nachlaßtexten zur
›Metaphysik der symbolischen Formen‹ aufgreifen (vor allem in dem Text
von 1928, der auf die Erarbeitung eines vierten Bandes der
›Philosophie der symbolischen Formen‹ angelegt war). Hier gerät
Cassirer allerdings eher in Schwierigkeiten. Sie bestehen darin, daß
er nach vorkulturellen, ja para-kulturellen Analoga symbolischer
Formen, z.B. im Animalischen sucht; dabei knüpft er z.B. an die Merk-
Wirk-Welt-Lehre Jakob v. Uexkülls an. Auch die Interpretation der
symbolischen Formen als eine Art produktiver Verarbeitung natürlicher
Reize zu stabileren Orientierungssystemen wird von Cassirer erwogen
und beinhaltet eine gewisse Vorwegnahme des Gehlenschen
Entlastungsbegriffs. Cassirer droht hier gelegentlich - wider Willen -
in naturalistische Bahnen zu geraten. Die Strategien Plessners (den er
in seinem Nachlaßmanuskript zur Metaphysik der symbolischen Formen von
1928 einmal sehr positiv nennt) stehen ihm noch nicht voll zur
Verfügung. Aber seine Anthropologie läßt sich an die Positionen
Plessners und Gehlens durchaus anschließen. Umgekehrt ist es denkbar,
daß Gehlensche und Plessnersche Theoreme, und vor allem auch
empirische Befunde, von Cassirer her philosophisch ein vertiefteres
Verständnis finden könnten. |
Um aber solche weiterführenden möglichen Erträge aus Cassirers Werk
herauszuheben, darf man dieses Werk nicht nur mimetisch würdigen. Man
muß sich kritisch mit ihm auseinandersetzen. Gerade dabei wird man
manche Inkonsistenzen entdecken, die jedoch geeignet sind, bei
genauerer Diskussion neue Chancen der Problemstellung und der
Problemlösung zu eröffnen. |
Ein Grundproblem von Cassirers Konzeption der symbolischen Formen ist
nun die Frage nach der Medialität der Kultur und des Menschen. Diese
Frage ist keine im engeren Sinne bloß kulturphilosophische oder
kulturanthropologische. Denn die Frage betrifft die Möglichkeit von
Bedeutungsansprüchen des Menschen überhaupt; und soweit nach Cassirer
Wahrheitsansprüche immer auch zunächst als Bedeutungsansprüche
auftreten, ist damit auch die Frage nach der Möglichkeit und
Reichweite der Wissenschaften impliziert. Es ist die Frage nach der
Medialität der menschlichen Orientierung überhaupt, die im
Kulturbegriff als der Welt des Menschen kulminiert. Sie betrifft den
für den Menschen charakteristischen Bedeutungsaustausch oder
Bedeutungstransfer, d.h. die Metaphorizität seiner Orientierung. Und
damit ist auch eine Kulturphilosophie im Sinne einer prima philosophia
eröffnet. |
Die Medialität der menschlichen Orientierung hat nun aber sehr
unterschiedliche Gesichtspunkte, die Cassirer zwar alle benannt hat,
deren systematischen Zusammenhang er aber nicht mehr darstellt, ja
eigentlich auch gar nicht zu elaborieren versucht. |
Folgende vier Gesichtspunkte sind zu nennen, in denen jeweils
charakteristische Polaritäten wirksam sind:
- Medialität dokumentiert sich auf zwei Ebenen
a) als physiologische Organisation
b) als symbolische Aktivität und Interaktivität
Die Frage nach dem Zusammenhang von a) und b) wird gerade am Menschen
virulent. Auf welche Weise wird am Fall Mensch, der ja das Paradigma
einer elementaren symbolischen Form ist, die Verknüpfung
physiologischer und symbolischer Medialität nachweisbar und
verständlich? Cassirer hat Hinweise gegeben im Zusammenhang der
eigentümlichen Zeitlichkeit sowohl des Organismus einerseits als auch
der Kultur andererseits (Was Kultur und Organismus verbindet ist der
Umstand, daß beide sinnhafte Zeitgestaltungen sind). Des weiteren
eröffnet sich die Möglichkeit einer Diskussion über das Verhältnis von
Bedürfnissen und Bedeutungen beim Menschen. Demgemäß ist der Mensch
das Lebewesen, das Bedürfnisse von vorneherein als Bedeutungen
interpretiert und so etwas wie das Bedürfnis nach Bedeutung originär
konstituiert.
- Symbolisierung als Grundverhalt der Kultur
a) als Gestalt
b) als Funktion
Wie ist das Verhältnis von Gestalt und Funktion zu bewerten?
Gelegentlich scheint Cassirer den Vorrang der Gestaltanalyse zu
betonen; er nennt das »Werk-Analyse« resp. »Form-Analyse« und sieht
hier die große Aufgabe der »Hermeneutik« (vgl. LKw, S. 97). Dann aber
betont Cassirer auch wiederum die Wichtigkeit der Analyse des Bildens
vor derjenigen des Bildes. Nicht sosehr um die »Natur des Bildes«,
sondern um »die zugleich freie und gesetzliche Form des Bildens« gehe
es (WWS, S. 183). Hier hat Cassirer so etwas wie ›Funktionsanalyse‹ im
Auge, die allerdings sehr unterschiedlich ausfallen kann (und deren
Sinn zwischen transzendentaler Methode, mathematischer Konstruktion
und Handlungstheorie oszilliert). Terminologisch erschwerend ist es,
daß der Begriff der Form sowohl auf der Seite der Gestaltanalyse als
auch auf der Seite der bloßen Funktionsanalyse auftauchen kann.
- Der Werkbegriff ist bei Cassirer in zwei Richtungen zu
differenzieren
a) nach seiner Personalbezogenheit (als Kulturgegenstand)
b) nach seiner A-Personalität im Sinne einer Nach-Null-Stellung des
Personalen (als Ding)
Die Betrachtungsweise nach a) ist die der Kulturwissenschaften im
engeren Sinne, die nach b) die der Naturwissenschaften. Die Frage, die
sich stellt, ist: was ist Grenzfall von wem?
- Das Tun (auch ein Fall von 2.b), welches das Medium erst belebt
und zum Medium macht
a) als Tun des Einzelnen, des personal faßbaren Ich
b) als Interaktion, die zwar personbezogen, aber als solche a-personal
geschieht
Hier entfaltet sich ein Begriff des Tuns, für den wir gar keinen
betreffbaren Akteur mehr zu haben scheinen. Was der personale Akteur
tut, ist allererst verständlich in einem annähernd anonymen
Interaktionsgeflecht, dessen Personalität lediglich eine
interpretierende Projektion des personalen Ich ist. Der bei Cassirer
so entscheidende Begriff des Tuns erweist sich als eine Metapher, die
den Charakter einer Vexiergestalt hat, der auch dem Begriff der
Funktion noch anhaftet (vgl. Systemtheorie).
|
Statt einer systematischen Würdigung des Zusammenhangs dieser
Perspektiven und Aspekte versucht sich Cassirer mit einem
modifizierten Kant-Zitat verständlich zu machen, das sich immer wieder
und in verschiedenen Entwicklungsphasen seines Werkes bei ihm findet.
Es handelt sich um jene berühmte Floskel Kants, es gehe darum, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können«
(KdrV A 314 / B 370f.; Prolegomena § 30). Cassirer benutzt allerdings
meistens statt des Singular »Erfahrung« den Plural »Erfahrungen«.
Vielleicht ist dies ein Indiz dafür, daß er die Einheit des
Erfahrungsbegriffs - zumindest bei der Interpretation einzelner
Problemfelder - aufgegeben hat. Wohl aber erlaubt es die Kantische
Formel - auch in der Cassirerschen Version -, das Geschäft der
Welterklärung und der Verständigung über die Welt - das heißt: der
Wissenschaften - als eine Kulturaufgabe zu verstehen. Denn die Formel
von der ›Lesbarkeit der Welt‹ ist eine Kulturformel. Auch eine
Arbeitsteilung zwischen den Einzelwissenschaften einerseits - seien es
Kulturwissenschaften oder Naturwissenschaften - und der Philosophie
als allgemeiner Kulturphilosophie andererseits läßt sich hier
erkennen. Geht es den Einzelwissenschaften darum, die Erscheinungen
nach bestimmten Alphabeten zu lesen, sozusagen das passende Alphabet
zu finden, so ist es die Aufgabe der Kulturphilosophie im Sinne
Cassirers, das Problem der Alphabetisierung überhaupt - sozusagen
vergleichend - zu stellen und damit die Bedingungen der Möglichkeit
des Buchstabierens und Lesens zu klären. Und dabei erweist es sich für
Cassirer, daß es viele mögliche Alphabetisierungen gibt - und
entsprechend vielerlei Lesarten der Wirklichkeit - und somit vielerlei
Wissenschaften, von denen allerdings keine hypostasiert werden darf. |
Die Kulturbedeutung der Wissenschaften bringt sich also in zweifacher
Weise zur Geltung. |
Zum einen sind die Wissenschaften - als je einzelne - Funktionen der
Kultur. Ihre Leistungen sind selbst Auswirkungen und Manifestationen
des Kulturprozesses. Das geschieht allerdings meist, ohne daß die
einzelnen Wissenschaften dies wissen. Sie sind jeweils voll auf ihre
sachlichen Ziele eingestellt und so oder so methodisch orientiert. |
Zum anderen aber breiten die Wissenschaften - um in Cassirers Bild zu
bleiben - Alphabete vor uns aus. Der Vergleich dieser Alphabete
bedeutet nun, daß Kultur selbst in ihrem lebendigen Gestalt- und
Gestaltungscharakter thematisch wird. Ohne das nochmalige Eingehen auf
die Wissenschaften, ohne Bereitschaft und Fähigkeit zur Lektüre und
Relektüre ihrer Weltsichten, wäre dieser Vergleich allerdings nicht
möglich. Er fände nicht statt. Dabei sind die Wissenschaften lediglich
besondere, allerdings methodisch bewußt elaborierte Typen von
Alphabeten neben anderen Formen des Weltverständnisses; d.h., sie sind
symbolische Formen neben anderen symbolischen Formen. |
Fragt man nach dem Leser dieser wissenschaftlichen Alphabete, so liegt
es nahe und auch Cassirer tut es -, vom Philosophen zu sprechen. Aber
Cassirer vermeidet ausdrücklich die Institutionalisierung der
Philosophie und die Professionalisierung des Philosophen.
Institutionalisierung und Professionalisierung liegen allein bei den
Wissenschaften, insofern sie symbolische Formen sind. Die Philosophie
ist nach Cassirer keine symbolische Form. Sie »will ... nicht« - wie
er in der ›Metaphysik der symbolischen Formen‹ sagt - »an Stelle der
alten Formen eine andere, höhere Form setzen; sie will nicht ein
Symbol durch ein anderes ersetzen« (M.d.s.F., S. 265). Sie bietet
keine neuen Alphabete an. Wo Philosophen das tun - und sie tun es oft
-, sind sie Wissenschaftler. Philosophie ist dagegen die
Beweglichkeit, Alphabete vergleichend lesen zu können; und dazu sind
auch Wissenschaftler nicht selten motiviert. Diese Beweglichkeit
verlangt Respekt vor den Wissenschaften; sie gibt ihnen ihre
Kulturbedeutung, indem sie diese wahrnimmt. |
In der ›Logik der Kulturwissenschaften‹ (1942, S. 17) identifiziert
Cassirer diese Philosophie mit einer »Sphäre«, zu der zwar notwendig
Wissenschaft gehöre, die aber nicht zureichend und abschließend von
Wissenschaft bestimmt werden könne. Wir dürfen diese Sphäre als Kultur
bezeichnen, deren vergleichende und besonnene Lektüre Cassirer offen
halten möchte. Es ist auch die Sphäre der Literatur, in welcher die
Metapher - die Bewegung von einem Alphabet ins andere - ihr Recht
behält. |
Hier wird auch verständlich, warum Husserl Schwierigkeiten mit
Cassirer hat. Er versteht Cassirer nicht, weil er selbst noch dem
Ideal eines abschließenden Alphabets anhängt. Demgegenüber zwingt uns
Cassirer die Vielfalt der Alphabetisierungen zu respektieren und deren
Erfahrung lebendig zu halten. Cassirer erweist sich damit leser- und
verlegerfreundlicher als Husserl. Zu seiner Auffassung gehört, daß ein
Text nicht genügt, sondern daß man viele Texte lesen muß. |
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