Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle

Prof. Birgit Recki
Philosophisches Seminar, Universität Hamburg
 
Ernst Cassirer, Goethe, Hamburg -
und was wir an einer »Hamburger Ausgabe« haben
Wenn man sich mit dem Werk Ernst Cassirers beschäftigt, dann muß man den Eindruck gewinnen, er habe sich die Maxime eines der von ihm besonders hochgeschätzten Philosophen der Renaissance, des Grafen Pico della Mirandola, zueigen gemacht, daß in jedem philosophischen oder wissenschaftlichen Werk, in jedem gedanklichen System etwas Wahres gefunden werden könne, das man gelten lassen müsse - eine hermeneutische Maxime, in der wir einen der Ursprünge des modernen Toleranzgedankens sehen dürfen. In der Tat ist eine der Tugenden, die an Cassirer sofort auffallen, diese mirandolinische Toleranz. Es gibt kaum einen Denker der abendländischen Tradition, mit dem er sich nicht beschäftigt, an dem er nicht etwas Richtiges wahrnimmt. Aber unter all den vielen, die ihm dadurch wichtig werden, sind ihm zwei Denker von vorrangiger Bedeutung gewesen: Kant und Goethe. Es würde allein mehr als einen abendfüllenden Vortrag, ja es würde ein ganzes wissenschaftliches Werk ausmachen, wenn man darstellen wollte, wie sich Cassirers Philosophie im Spannungsfeld dieser beiden Kronzeugen bewegt. Damit will ich Sie heute abend gar nicht aufhalten. Auf die Kantischen Grundlagen werde ich gleich in wenigen Strichen eingehen, auf den Anteil Goethes möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen nur ganz kurz aber nachhaltig zu sprechen kommen. Seit seinen ersten geistesgeschichtlichen Studien im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ist Cassirer auf Goethe immer wieder zurückgekommen, er hat ihn über die Maßen geschätzt - und es kommt hinzu, daß er mit ihm eine häufig bemerkte physiognomische Ähnlichkeit hatte. Toni Cassirer berichtet in der Biographie ihres Mannes, daß sie bei einem Besuch im Weimarer Goethehaus 1905 von den aufdringlichen Blicken des Museumsdieners irritiert gewesen sei und auf die Frage, warum er denn ihren Mann so anstarre, die ehrfürchtige Antwort erhalten habe: »als der Herr hereinkam, glaubte ich im ersten Augenblick, der Alte wäre vielleicht wiedergekommen - er sieht ihm ja so ähnlich.« (Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981, 86.) Der gerade 31jährige Cassirer, so berichtet seine Frau, fühlte sich geschmeichelt. Bei solcher ausdrücklichen und offenbar gern in Anspruch genommenen Nähe auf gleich mehreren Ebenen war uns, die wir an der Ausgabe von Cassirers Gesammelten Werken arbeiten, die Möglichkeit eines Hinweises sehr willkommen, die darin liegt, die neue Edition auch in Reminiszenz an die große wissenschaftliche Goetheausgabe als Hamburger Ausgabe zu benennen. (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bden., hg. von E. Trunz u.a. 1966 - 1972.)
Damit habe ich vielleicht das Wichtigste schon gesagt und bin jedenfalls schon mitten im Thema: Wir möchten Sie heute abend auf den Einsatz eines dringend erforderlichen, sorgsam geplanten und in einem ersten Schritt bereits erfolgreichen Unternehmens aufmerksam machen: auf die Neuausgabe der zu Lebzeiten veröffentlichten Werke. Die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle der Universität Hamburg, in der die neue Edition hergestellt wird, existiert mit ihren 4 Mitarbeitern seit gut einem Jahr - und zwar in diesem gastlichen Haus. Und wir haben nach diesem Jahr, in dem die Vorarbeiten zu mehreren Bänden parallel geleistet worden sind, soeben die Arbeiten am ersten von insgesamt 25 geplanten Bänden abschließen können. Dieses Buch, das Cassirers erste wissenschaftliche Monographie enthält, das Werk Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen von 1902, wird nun in Kürze erscheinen, und wir ergreifen die Gelegenheit, Ihnen mit dem Hinweis auf diesen Band etwas von unserer Arbeit zu erzählen und zugleich die gesamte vor uns liegende Ausgabe vorzustellen - die Hamburger Ausgabe.
Wenn man nun zu dem umfangreichen und großen Werk Cassirers in aller gebotenen Kürze etwas sagen will, dann liegt es nahe, vor allem auf seine Philosophie der Kultur einzugehen, die Philosophie der symbolischen Formen. Hier an diesem Ort liegt dies besonders nahe, weil das unbestrittene Kernstück seines Lebenswerkes mit diesem Hause ebenso eng verbunden ist wie mit der Universität Hamburg. 1919 wird Cassirer nach seinem Studium in Berlin und Marburg, nach der Habilitation und den Jahren als Privatdozent in Berlin auf einen Lehrstuhl an die junge Hamburger Reformuniversität berufen, wo er im Studienjahr 1929/30 auch das Amt des Rektors bekleiden sollte. Und mit dem Wechsel von Berlin nach Hamburg ist der Abschnitt seines selbständigen Philosophierens markiert, der in der Frage nach Begriff und Kontext der Kultur von höchstem Interesse ist: In dem Jahrzehnt von 1920 bis 1930 entwickelt Cassirer nach ertragreichen Studien zur Erkenntnistheorie, zur Wissenschaftstheorie und zur Ideengeschichte - seine Philosophie der Kultur. Wir wissen, daß diese wohl ohne die enge freundschaftliche und wissenschaftliche Verbindung zu Aby Warburg und seinem beispiellosen Projekt zur Erforschung des Nachlebens der Antike - das heißt der geisteswissenschaftlichen Grundlagen unserer Kultur - gar nicht denkbar wäre. Bald nach seiner Ankunft in Hamburg hatte Cassirer die Kulturhistorische Bibliothek und auch Aby Warburg persönlich kennengelernt und war seitdem in deren akademischem Veranstaltungsprogramm gut integriert. Hans Blumenberg hat 1974 seine Dankesrede bei der Annahme des Kuno-Fischer-Preises zum Anlaß genommen, an den großen Vorgänger Ernst Cassirer zu erinnern - den ersten überhaupt, dem dieser Preis verliehen wurde. Wenn Blumenberg in diesem Zusammenhang behauptet, Cassirers Kulturphilosophie wäre die Theorie dieser Bibliothek (Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, 165. a.a.O., 127.), dann ist das sicherlich eine kapriziöse Umkehrung der Bewertungsrichtung. In ihr kommt - soviel muß man konzedieren - gewiß das Selbstverständnis eines alteuropäischen Gelehrten zum Ausdruck, dessen persönliches Lebenselement das überlieferte Wissen ist und der deshalb besonders hoch schätzt, was die Bibliotheken für den Charakter und das Überleben einer Kultur bedeuten können. Diese Bemerkung auch ins Ohr unserer Kultur- und Wissenschaftspolitiker. Cassirers Philosophie ist aber mehr und etwas anderes als die Theorie zur Bibliothek. Ich finde die folgende Einschätzung angemessener: »Die Auswahl der Bücher und der ganze Aufbau dieser Bibliothek waren so, daß man hätte glauben können, ihr Begründer habe Cassirers Konzeption einer Theorie der symbolischen Formen als System der geistigen Grundfunktionen mehr oder weniger antizipiert« - eine Formulierung aus der Rede zum 100. Geburtstag von Ernst Cassirer am 20. Oktober 1974, gehalten vom damaligen Präsidenten der Universität Hamburg, Peter Fischer-Appelt. Richtig ist dabei ganz gewiß, daß eine Voraussetzung für die Entwicklung des historisch-materialen Elements seiner Theorie die exzessive Nutzung der Kulturhistorischen Bibliothek war. Toni Cassirer hat anschaulich erzählt, daß in den 20er Jahren jedesmal im Sommer, wenn die Cassirers in die Ferien fuhren, in großen Wäschekörben die mehreren hundert Bücher wieder in die Bibliothek Warburg geholt wurden, die Ernst während des Semesters zur privaten Nutzung bei sich zu Hause gehabt hatte.
Soviel zu dem günstigen institutionellen und dabei interdisziplinären Rahmen, in dem Cassirers Hauptwerk entstehen konnte. Aufgrund dieser Verbindung hat es auch einen guten und schönen Sinn, daß heute die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle in diesen Räumen so freundliches Gastrecht genießt. Was aber ist über die Philosophie eines offenbar vielseitigen Geistes zu sagen? Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen legt Ernst Cassirer in den zwanziger Jahren den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, die sich nicht im Sinne einer speziellen Bindestrich-Disziplin als die Theorie eines ganz besonderen Bereichs menschlicher Interessen (der Hoch-Kultur) versteht, sondern als allgemeine philosophische Anthropologie - die Betrachtung des menschlichen Wesens in seinen Werken. Cassirer hat diesen grundsätzlichen Anspruch nirgends anschaulicher vorgetragen, als dort wo er sein Unternehmen rückblickend in methodische Analogie zu jenem Gleichnis bringt, mit dem Platon den Status seiner Politeia zu verdeutlichen sucht: Um das Wesen des Menschen zu verstehen, bedarf es der Übertragung in ein verdeutlichendes Medium. Wie der Staat nach Platon der großgeschriebene und darin besser zu entziffernde Mensch ist, so ist es nach Cassirers Programm die gesamte Kultur. Wir müssen lernen, gleichsam die Großbuchstaben der Kultur zu lesen, wenn wir etwas über das Wesen des Menschen ermitteln wollen.
In diesem methodischen Ansatz ist bereits eine wichtige theoretische Einsicht zur Geltung gebracht: Das Wesen des Menschen ist keine geheime Substanz, und es hat erst recht nichts Statisches - das Wesen des Menschen ist rein funktionell bestimmt. Es ist nichts anderes als das, was in den menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt - in allem, was der Mensch aus den vorgefundenen Verhältnissen und damit aus sich selbst macht; es ist somit auch etwas, das andauernd in Aktion - und damit im Wandel begriffen ist. Den Übergang von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen, den Cassirer 1910 in seinen Studien zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften beschrieben hat, bringt er damit auch in der Philosophie als Kulturwissenschaft zur Geltung: Wir können nur dann überhaupt begreifen, was der Mensch ist, wenn wir an seinem Wirken nachvollziehen, was er tut. Und das läßt sich durchweg als Erzeugung und Verstehen von Bedeutung begreifen. Es ist die Kultur, die die Antwort auf die Frage nach dem Menschen gibt, denn sie ist als Entäußerung seiner Spontaneität und Produktivität seine gesamte Welt, wie sie sich in verschiedenen Medien der symbolischen Gestaltung erst verwirklicht - und ihm etwas bedeutet. Der Mensch ist das animal symbolicum, das symbolerzeugende Lebewesen.
Entscheidend ist dabei, daß Cassirer einen sehr weitgefaßten, elementaren Begriff von Symbolisierung hat. Der Ansatz unterscheidet sich ausdrücklich von jedem spezifisch kunsthistorischen oder literaturwissenschaftlichen Verständnis der Symbole und ist gerade durch seine Allgemeinheit für jedes spezifische Verständnis anschlußfähig; Cassirers Symbolbegriff hat den grundlegenden Sinn, uns klarzumachen, daß für uns aufgrund der geistigen Produktivität, die unsere Gattung auszeichnet, im Prinzip alles zum Träger von Bedeutung werden kann: Ein Symbol liegt in jeder Art von »Sinnerfüllung des Sinnlichen«, und die regelmäßigen und typischen Arten dieser Sinnerfüllung nennt Cassirer symbolische Formen.
Im Kontext der Philosophie der symbolischen Formen, die in drei Bänden 1923, 1925 und 1929 erschienen ist, behandelt Cassirer als solche typischen Formen menschlicher Kulturerzeugung ausdrücklich die Sprache, den Mythos und die Religion, die Wissenschaft und die Kunst, schließlich die Geschichte, die Technik und die Wirtschaft. Und es gehört zu den spannenden Fragen der Forschung, inwiefern es ihm gelungen ist, auch die Moral und das Recht, diese kulturellen Systeme der normativen Orientierung, im Ganzen der symbolischen Formen angemessen zu repräsentieren.
Jedenfalls erforscht Cassirer die Geschichte und die Eigenart aller dieser Formen, in denen sich die Kultur zum systemischen Kontext der menschlichen Wirklichkeit entfaltet, und es ist nicht allein die Schmiegsamkeit seines symboltheoretischen Ansatzes, die ihn anschlußfähig macht für die Sichtweise aktueller zeichentheoretischer Entwürfe. Durch die methodische Sonderstellung, die in seinem Systementwurf der Sprache zukommt, ist Cassirer auch ein ernstzunehmender Gesprächspartner für die Theorien nach der sprachphilosophischen Wende. Durch die Begründung der kulturellen Symbolerzeugung im menschlichen Bewußtsein, das sich Cassirer selbst als einen Zusammenhang elementarer Symbolisierung vorstellt, wird er interessant in dem Kontext gegenwärtiger Debatten, in dem es um die Verabschiedung oder die Rehabilitierung eines repräsentationalistischen Bewußtseinsbegriffs geht. Und eine der Pointen seiner Theorie, die ihn ebenfalls als Zeitgenossen unserer heutigen Fragen qualifiziert, liegt darin, daß er das Problem der Pluralität der Kulturen grundlegend begreiflich macht, indem er diejenige Pluralität zu ermessen sucht, die jede Kultur als solche immer schon ist, und ohne daß er sich dabei von der Frage nach der Einheit in dieser Vielheit abbringen läßt.
Diese Einheit sieht Cassirer in einer funktionalen Gemeinsamkeit, in der Funktion der Befreiung, die allen Formen menschlicher Kultur gleichermaßen zukommt. Und dies führt direkt auf die subjektphilosophische und zwar genauer gesagt die Kantianische Prämisse, an der Cassirer festhält. Er erklärt zwar von Anfang an programmatisch, es gälte die Kritik der Vernunft zu transformieren in eine Kritik der Kultur in ihrer ganzen Vielfalt - doch die mit Kants Kopernikanischer Wende verbundene Auffassung, daß alle unsere Wirklichkeit nur zu verstehen ist als Wirkung unserer geistigen Leistung, will er gerade mit seiner Analyse der Kultur ausdrücklich bestätigen, indem er sie diversifiziert. Entscheidend ist somit für seine Theorie der Ansatz bei der schöpferischen menschlichen Spontaneität. Jede kulturelle Form verdankt sich, so sagt Cassirer, einer »ursprüngliche[n] Tat des Geistes« (PhsF I, 43). Und das Entscheidende: Diese Spontaneität ist in ihren artikulierten Formen immer als eine Weise der produktiven Selbstbestimmung und darin ausdrücklich als Freiheit gefaßt. Die kulturellen Formen sind, wie Cassirer immer wieder einschärft, Formen der Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck (PhsF I, 12), von der Befangenheit im bloß Sinnlichen durch die geistige Aktivität und Produktivität der Sinngebung. In allen äußert sich »die Freiheit des geistigen Tuns« (PhsF I, 43) - in jeder auf eine besondere Weise. Kultur ist »der Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen« (VM 345). Sie kann dies sein, weil die symbolische Vermittlung durch die mediale Distanzierung im Maße ihrer Artikuliertheit auch Verfügung über Verhältnisse gewährt. Das heißt allgemein gefaßt: Die gesamte Kultur wird somit zu einem vielgestaltigen Projekt der menschlichen Selbstbestimmung. Alle Kultur ist Form der Freiheit. Es ist letztlich dieser elementare Bezug auf den Begriff der Freiheit, durch den Cassirer das Wesentliche über den Menschen sagen will - über den Menschen und seine Chance, mehr zu sein als bloß irgendein sterbliches Lebewesen. Es ist unverkennbar, daß durch eine solche Beschreibung eine grundsätzlich positive Bewertung der menschlichen Kultur überhaupt zur Geltung gebracht wird: Vermittels des Freiheitsbegriffs sagt der Theoretiker indirekt: Es ist gut, daß dies geschieht. Und in dieser Stellungnahme wird deutlich, daß bei Cassirer die gesamte Kultur ethisch zu verstehen ist.
Es kann uns nicht überraschen, daß ein Denker, der den Begriff der Freiheit derart seiner gesamten Theorie der menschlichen Wirklichkeit zugrundelegt, auf Freiheit auch im engeren politischen Verständnis wert legt. Wir finden in Cassirer denn auch insofern einen gänzlich untypischen Vertreter der Gelehrtenzunft im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik, als er sich nicht nur unter anderem auch engagiert mit den Problemen der politischen Theorie auseinandergesetzt hat, sondern zugleich ein wachsamer politischer Zeitgenosse von großer Geistesgegenwart und Urteilskraft war. Einen ausgeprägten weltbürgerlichen Sinn für die politische Kultur zeigt bereits der Autor von Freiheit und Form, der sich 1916 - mitten im Ersten Weltkrieg - als Europäer exponiert, indem er die geistesgeschichtliche Kontinuität des deutschen, italienischen und französischen Denkens seit der Renaissance aufweist. Jeder, der auch nur eine Ahnung von der herrschenden Stimmung jener Zeit hat, wird erkennen, welcher Akt der Zivilcourage in einer solchen philosophischen Integration Europas liegt. Ein exemplarischer Vorgang, der sich in seinen Schriften von mehr oder weniger direkter politischer Bedeutung noch mehrfach wiederholen sollte. Den politischen Impetus zur Erinnerung und Bestärkung einer europäischen Kultur verfolgt Cassirer auch ausdrücklich in einem kleinen und scheinbar nebensächlichen, aber als Dokument aus finsteren Zeiten höchst bedeutsamen Text, der erst seit kurzem wieder publizistisch zugänglich ist: in der Rede, die er hier im Hamburger Senat 1928 zur Feier des zehnten Jahrestags der deutschen Verfassung gehalten hat: Die Idee der republikanischen Verfassung. Die Rede ist ausdrücklich gegen die völkischen und antidemokratischen Bewegungen jener Zeit gerichtet, die in der Demokratie eine westliche Eigentümlichkeit sehen wollen, welche dem deutschen Nationalwesen fremd wäre. Cassirer zeigt hier durch die ideengeschichtliche Genealogie des modernen Verfassungsgedankens und der damit verbundenen Idee vom unveräußerlichen Naturrecht des Individuums, daß es deutsche Philosophen waren - Leibniz und Wolff, die mit der Idee der Freiheit und der gleichen Rechte in maßgeblicher Weise die Befreiungsbewegungen des 18. Jahrhunderts in Amerika und in Frankreich beeinflußt haben. Und die These besagt noch mehr: Ein wesentliches Merkmal des deutschen Denkens, das auf diese Weise in Kontinuität mit dem der anderen europäischen Nationen gerückt wird, wäre demnach gerade der allen Nationalismus übersteigende universalistische Impetus der hier entwickelten Ideen. Cassirer gibt sich damit auch selbst als Verfechter der allgemeinen Menschenrechte zu erkennen: Und auf diese Weise artikuliert er sich in einer Zeit, in der der Verfassungsgedanke und mit ihm der Parlamentarismus bereits in der Krise waren, nachdrücklich als ein vom europäischen Gedanken durchdrungener Verfassungsdemokrat.
Und ein weiteres Mal sollte sich der Vorgang der philosophischen Integration Europas wiederholen in seiner großen Monographie über die Philosophie der Aufklärung, wo er auch die Bewegung der Vernunftaufklärung des 18. Jahrhunderts über die nationalen und regionalen Grenzen hinweg als ein europäisches Projekt beschreibt. Dieses Buch, das seit einigen Tagen in einer neuen Ausgabe wieder allgemein zugänglich ist, charakterisiert übrigens ebenso wie die gelehrten Studien zum Humanismus der Renaissance Cassirers philosophisches wie politisches Profil. Der Erkenntnis und vernünftigen Einsicht verpflichtet, liberal und tolerant, mit einem Wort ein Aufklärer ist Cassirer zeit seines Lebens gewesen - ein Aufklärer, der sich auch durch eine Dialektik der Aufklärung nicht von der Einsicht hätte abbringen lassen, daß doch die Vernunft, so wenig sie bei aller Bedrohtheit und Zerbrechlichkeit auch ausrichten kann, schließlich alles ist, worauf wir uns überhaupt verlassen können.
Alle diese selbständigen Studien, die ich Ihnen mit dieser Skizze in Erinnerung gerufen habe, sind nicht nur Dokumente einer umsichtigen Gelehrsamkeit in den Gebieten, die sie jeweils bearbeiten - sie stehen auch auf einem soliden Sockel der Auseinandersetzung mit den Wissenschaften, den Naturwissenschaften. Anders als bei Wilhelm Dilthey in seiner methodischen Grundlegung der Geschichtswissenschaft steht bei Cassirer die Begründung der Kulturwissenschaft nicht allein auf geisteswissenschaftlichen Fundamenten. Und darin liegt zuletzt ein großer Vorzug dieses systematischen Ansatzes - daß er aus profunder Kenntnis die Naturwissenschaft in sein System der Kultur zu integrieren vermag und auf diese Weise die Rede von den zwei Kulturen schon überholt hat, bevor sie überhaupt aufkam. Wie souverän sich Cassirer in der ontologisch-metaphysischen, in der erkenntnistheoretischen und in der naturwissenschaftlichen Tradition bewegte, das läßt sich ganz besonders gut an den Schriften aus dem ersten und zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts studieren, mit denen wir entspechend der Werk-Chronologie auch in unserer Hamburger Ausgabe den Auftakt geben. Die großen Monographien zum Erkenntnisproblem, mit denen sich der junge Marburger Gelehrte schon bald im Kreis seiner Berliner Kollegen einen Namen als der »Erkenntnis-Cassirer« machen konnte, aber auch schon die erste selbständige Schrift über Leibniz' System, auf die ich aus dem Anlaß ihres baldigen Erscheinens gerade schon hingewiesen habe, zeichnen ihn als einen Kenner der philosophischen und naturwissenschaftlichen Tradition aus.
Lange Zeit war das Werk Ernst Cassirers nahezu völlig in Vergessenheit geraten, und insbesondere in Deutschland, das Cassirer mit seiner Familie unter dem Druck der politischen Verhältnisse schon im Frühjahr 1933 verlassen hatte, gehörte nach dem Krieg in der Situation einer gewaltsam unterbrochenen Wirkungsgeschichte offenbar ein sehr eigenwilliges Leseverhalten und eine sehr selbständige Urteilskraft dazu, um wiederzuentdecken, was wir an diesem Werk haben. Der politische Emigrant Cassirer hat auf diese Weise im Grunde das Schicksal einer doppelten Vertreibung erlitten - einer, die seiner Person galt und einer anderen, die darin besteht, daß sein Werk seit den dreißiger Jahren und bis heute neben den maßgeblichen Positionen der deutschen Nachkriegsphilosophie im Schatten steht, neben den Auseinandersetzungen um Heidegger und die hermeneutische Schule, um Wittgenstein und den linguistic turn, um die kritische Theorie der Frankfurter Schule, den kritischen Rationalismus und die Strukturalismen aller Art. Bis Anfang der 90er Jahre galt Cassirer der großen Mehrheit der Kollegen in der Philosophie als einer von diesen Neukantianern, und man wußte, was von dieser abstrakten und in der akademischen Dominanz seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts steril gewordenen Richtung zu halten war. Dabei hatte Cassirer schon recht früh in seiner philosophischen Entwicklung aufgehört, ein Neukantianer im üblichen Verständnis des Begriffs zu sein. Aber sein selbständiges Werk war nur einer kleinen Schar von Lesern und Interpreten wirklich bekannt, und es mußte offensichtlich erst das Jubiläumsjahr 1995 mit dem 50. Todestag kommen. Mit der jubiläumsüblichen, in diesem Fall einmal wohltätigen Inflation an philosophischen und geisteswissenschaftlichen Interpretationen, an universitären, publizistischen wie editorischen Initiativen beginnt sich das Blatt seither zu wenden, es sieht so aus, als ließe sich eine Ungerechtigkeit der Rezeptionsgeschichte auch wiedergutmachen: Auch ein größeres akademisches Publikum ist inzwischen auf das Werk dieses humanistischen Gelehrten aufmerksam geworden. In diesem Zusammenhang hat unlängst Jürgen Habermas den Philosophen Cassirer als den letzten Universalgelehrten dieses Jahrhunderts entdeckt und gewürdigt, und das Urteil ist gewiß einseitig, aber nicht falsch.
Zur Illustration von Cassirers eindrucksvoller Gelehrsamkeit darf ich Ihnen zum Schluß meiner Ausführungen eine Freudsche Fehlleistung wiedergeben, die den Mitarbeitern der Ernst Cassirer Arbeitsstelle bei unseren zahlreichen Arbeitsbesprechungen wiederholt unterlaufen ist und der man wahrlich einen objektiven Aufschlußwert bescheinigen kann: Ernst Cassirer, der umfassend gebildete Gelehrte, der seinen eigenen Ansatz ganz in die Auseinandersetzung mit der Tradition und mit den zeitgenössischen Theorien eingearbeitet hat, Ernst Cassirer bedient den Leser in der Darstellung seiner Theorie in einem fort mit Zitaten aus den Zusammenhängen seiner Gewährsautoren. Keine Frage, daß die Lektüre seiner Werke auch aus diesem Grunde so ertragreich ist. Man lernt eine Menge von diesem Autor. Keine Frage aber auch, daß die Sicherung, das heißt die Prüfung und Korrektur dieser unzähligen Zitate auch mit einem enormen Aufwand an Recherche und Lektüre verbunden sind. Unsere Mitarbeiter werden Ihnen ja gleich ein wenig aus der Arbeit an der Edition berichten. Kein Wunder, daß sie bei dieser vielen Mühe im Dienste von Cassirers Zitaten im Eifer unserer Besprechungen dann immer wieder einmal unversehens von »Zitierer« anstatt von »Cassirer« sprechen - ein Versprecher, der bei uns zwischenzeitlich zum Bonmot geworden ist. Aber -, auch wenn damit in der Tat eine der großen Qualitäten dieses Denkers getroffen ist - an Cassirer haben wir mehr als einen Gelehrten. Er hat uns ein reiches Werk nicht allein als Historiker der Philosophie, als kenntnisreicher und umsichtiger Interpret der Tradition in ihrer ganzen Breite hinterlassen - er gehört zu den großen Denkern dieses Jahrhunderts, und sein eigener systematischer Ansatz bietet einen Reichtum an Anknüpfungsmöglichkeiten, den wir gerade erst zu ermessen beginnen. Mit der Hamburger Ausgabe wollen wir die Grundlage dafür schaffen, daß es auch für das Werk dieses Philosophen möglichst bald die eingespielten Überlieferungsverhältnisse gibt, auf die jeder Klassiker einen legitimen Anspruch hat.

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