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Prof. Birgit Recki |
Philosophisches Seminar, Universität Hamburg |
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Ernst Cassirer, Goethe, Hamburg -
und was wir
an
einer »Hamburger Ausgabe« haben |
Wenn man sich mit dem Werk Ernst Cassirers beschäftigt, dann muß
man den Eindruck gewinnen, er habe sich die Maxime eines der von ihm
besonders hochgeschätzten Philosophen der Renaissance, des Grafen Pico
della Mirandola, zueigen gemacht, daß in jedem philosophischen oder
wissenschaftlichen Werk, in jedem gedanklichen System etwas Wahres
gefunden werden könne, das man gelten lassen müsse - eine
hermeneutische Maxime, in der wir einen der Ursprünge des modernen
Toleranzgedankens sehen dürfen. In der Tat ist eine der Tugenden, die
an Cassirer sofort auffallen, diese mirandolinische Toleranz. Es gibt
kaum einen Denker der abendländischen Tradition, mit dem er sich nicht
beschäftigt, an dem er nicht etwas Richtiges wahrnimmt. Aber unter all
den vielen, die ihm dadurch wichtig werden, sind ihm zwei Denker von
vorrangiger Bedeutung gewesen: Kant und Goethe. Es würde allein mehr
als einen abendfüllenden Vortrag, ja es würde ein ganzes
wissenschaftliches Werk ausmachen, wenn man darstellen wollte, wie
sich Cassirers Philosophie im Spannungsfeld dieser beiden Kronzeugen
bewegt. Damit will ich Sie heute abend gar nicht aufhalten. Auf die
Kantischen Grundlagen werde ich gleich in wenigen Strichen eingehen,
auf den Anteil Goethes möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen nur
ganz kurz aber nachhaltig zu sprechen kommen. Seit seinen ersten
geistesgeschichtlichen Studien im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts
ist Cassirer auf Goethe immer wieder zurückgekommen, er hat ihn über
die Maßen geschätzt - und es kommt hinzu, daß er mit ihm eine häufig
bemerkte physiognomische Ähnlichkeit hatte. Toni Cassirer berichtet in
der Biographie ihres Mannes, daß sie bei einem Besuch im Weimarer
Goethehaus 1905 von den aufdringlichen Blicken des Museumsdieners
irritiert gewesen sei und auf die Frage, warum er denn ihren Mann so
anstarre, die ehrfürchtige Antwort erhalten habe: »als der Herr
hereinkam, glaubte ich im ersten Augenblick, der Alte wäre vielleicht
wiedergekommen - er sieht ihm ja so ähnlich.« (Toni Cassirer: Mein
Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981, 86.) Der gerade 31jährige
Cassirer, so berichtet seine Frau, fühlte sich geschmeichelt. Bei
solcher ausdrücklichen und offenbar gern in Anspruch genommenen Nähe
auf gleich mehreren Ebenen war uns, die wir an der Ausgabe von
Cassirers Gesammelten Werken arbeiten, die Möglichkeit eines Hinweises
sehr willkommen, die darin liegt, die neue Edition auch in Reminiszenz
an die große wissenschaftliche Goetheausgabe als Hamburger Ausgabe zu
benennen. (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bden., hg. von E.
Trunz u.a. 1966 - 1972.) |
Damit habe ich vielleicht das Wichtigste schon gesagt und bin
jedenfalls schon mitten im Thema: Wir möchten Sie heute abend auf den
Einsatz eines dringend erforderlichen, sorgsam geplanten und in einem
ersten Schritt bereits erfolgreichen Unternehmens aufmerksam machen:
auf die Neuausgabe der zu Lebzeiten veröffentlichten Werke. Die
Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle der Universität Hamburg, in der die neue
Edition hergestellt wird, existiert mit ihren 4 Mitarbeitern seit gut
einem Jahr - und zwar in diesem gastlichen Haus. Und wir haben nach
diesem Jahr, in dem die Vorarbeiten zu mehreren Bänden parallel
geleistet worden sind, soeben die Arbeiten am ersten von insgesamt 25
geplanten Bänden abschließen können. Dieses Buch, das Cassirers erste
wissenschaftliche Monographie enthält, das Werk Leibniz' System in
seinen wissenschaftlichen Grundlagen von 1902, wird nun in Kürze
erscheinen, und wir ergreifen die Gelegenheit, Ihnen mit dem Hinweis
auf diesen Band etwas von unserer Arbeit zu erzählen und zugleich die
gesamte vor uns liegende Ausgabe vorzustellen - die Hamburger Ausgabe. |
Wenn man nun zu dem umfangreichen und großen Werk Cassirers in aller
gebotenen Kürze etwas sagen will, dann liegt es nahe, vor allem auf
seine Philosophie der Kultur einzugehen, die Philosophie der
symbolischen Formen. Hier an diesem Ort liegt dies besonders nahe,
weil das unbestrittene Kernstück seines Lebenswerkes mit diesem Hause
ebenso eng verbunden ist wie mit der Universität Hamburg. 1919 wird
Cassirer nach seinem Studium in Berlin und Marburg, nach der
Habilitation und den Jahren als Privatdozent in Berlin auf einen
Lehrstuhl an die junge Hamburger Reformuniversität berufen, wo er im
Studienjahr 1929/30 auch das Amt des Rektors bekleiden sollte. Und mit
dem Wechsel von Berlin nach Hamburg ist der Abschnitt seines
selbständigen Philosophierens markiert, der in der Frage nach Begriff
und Kontext der Kultur von höchstem Interesse ist: In dem Jahrzehnt
von 1920 bis 1930 entwickelt Cassirer nach ertragreichen Studien zur
Erkenntnistheorie, zur Wissenschaftstheorie und zur Ideengeschichte -
seine Philosophie der Kultur. Wir wissen, daß diese wohl ohne die enge
freundschaftliche und wissenschaftliche Verbindung zu Aby Warburg und
seinem beispiellosen Projekt zur Erforschung des Nachlebens der Antike
- das heißt der geisteswissenschaftlichen Grundlagen unserer Kultur -
gar nicht denkbar wäre. Bald nach seiner Ankunft in Hamburg hatte
Cassirer die Kulturhistorische Bibliothek und auch Aby Warburg
persönlich kennengelernt und war seitdem in deren akademischem
Veranstaltungsprogramm gut integriert. Hans Blumenberg hat 1974 seine
Dankesrede bei der Annahme des Kuno-Fischer-Preises zum Anlaß
genommen, an den großen Vorgänger Ernst Cassirer zu erinnern - den
ersten überhaupt, dem dieser Preis verliehen wurde. Wenn Blumenberg in
diesem Zusammenhang behauptet, Cassirers Kulturphilosophie wäre die
Theorie dieser Bibliothek (Wirklichkeiten in denen wir leben,
Stuttgart 1981, 165. a.a.O., 127.), dann ist das sicherlich eine
kapriziöse Umkehrung der Bewertungsrichtung. In ihr kommt - soviel muß
man konzedieren - gewiß das Selbstverständnis eines alteuropäischen
Gelehrten zum Ausdruck, dessen persönliches Lebenselement das
überlieferte Wissen ist und der deshalb besonders hoch schätzt, was
die Bibliotheken für den Charakter und das Überleben einer Kultur
bedeuten können. Diese Bemerkung auch ins Ohr unserer Kultur- und
Wissenschaftspolitiker. Cassirers Philosophie ist aber mehr und etwas
anderes als die Theorie zur Bibliothek. Ich finde die folgende
Einschätzung angemessener: »Die Auswahl der Bücher und der ganze
Aufbau dieser Bibliothek waren so, daß man hätte glauben können, ihr
Begründer habe Cassirers Konzeption einer Theorie der symbolischen
Formen als System der geistigen Grundfunktionen mehr oder weniger
antizipiert« - eine Formulierung aus der Rede zum 100. Geburtstag von
Ernst Cassirer am 20. Oktober 1974, gehalten vom damaligen Präsidenten
der Universität Hamburg, Peter Fischer-Appelt. Richtig ist dabei ganz
gewiß, daß eine Voraussetzung für die Entwicklung des
historisch-materialen Elements seiner Theorie die exzessive Nutzung
der Kulturhistorischen Bibliothek war. Toni Cassirer hat anschaulich
erzählt, daß in den 20er Jahren jedesmal im Sommer, wenn die Cassirers
in die Ferien fuhren, in großen Wäschekörben die mehreren hundert
Bücher wieder in die Bibliothek Warburg geholt wurden, die Ernst
während des Semesters zur privaten Nutzung bei sich zu Hause gehabt
hatte. |
Soviel zu dem günstigen institutionellen und dabei interdisziplinären
Rahmen, in dem Cassirers Hauptwerk entstehen konnte. Aufgrund dieser
Verbindung hat es auch einen guten und schönen Sinn, daß heute die
Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle in diesen Räumen so freundliches
Gastrecht genießt. Was aber ist über die Philosophie eines offenbar
vielseitigen Geistes zu sagen? Mit seiner Philosophie der symbolischen
Formen legt Ernst Cassirer in den zwanziger Jahren den systematischen
Entwurf einer Kulturphilosophie vor, die sich nicht im Sinne einer
speziellen Bindestrich-Disziplin als die Theorie eines ganz besonderen
Bereichs menschlicher Interessen (der Hoch-Kultur) versteht, sondern
als allgemeine philosophische Anthropologie - die Betrachtung des
menschlichen Wesens in seinen Werken. Cassirer hat diesen
grundsätzlichen Anspruch nirgends anschaulicher vorgetragen, als dort
wo er sein Unternehmen rückblickend in methodische Analogie zu jenem
Gleichnis bringt, mit dem Platon den Status seiner Politeia zu
verdeutlichen sucht: Um das Wesen des Menschen zu verstehen, bedarf es
der Übertragung in ein verdeutlichendes Medium. Wie der Staat nach
Platon der großgeschriebene und darin besser zu entziffernde Mensch
ist, so ist es nach Cassirers Programm die gesamte Kultur. Wir müssen
lernen, gleichsam die Großbuchstaben der Kultur zu lesen, wenn wir
etwas über das Wesen des Menschen ermitteln wollen. |
In diesem methodischen Ansatz ist bereits eine wichtige theoretische
Einsicht zur Geltung gebracht: Das Wesen des Menschen ist keine
geheime Substanz, und es hat erst recht nichts Statisches - das Wesen
des Menschen ist rein funktionell bestimmt. Es ist nichts anderes als
das, was in den menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung
kommt - in allem, was der Mensch aus den vorgefundenen Verhältnissen
und damit aus sich selbst macht; es ist somit auch etwas, das
andauernd in Aktion - und damit im Wandel begriffen ist. Den Übergang
von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen, den Cassirer 1910 in
seinen Studien zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften
beschrieben hat, bringt er damit auch in der Philosophie als
Kulturwissenschaft zur Geltung: Wir können nur dann überhaupt
begreifen, was der Mensch ist, wenn wir an seinem Wirken
nachvollziehen, was er tut. Und das läßt sich durchweg als Erzeugung
und Verstehen von Bedeutung begreifen. Es ist die Kultur, die die
Antwort auf die Frage nach dem Menschen gibt, denn sie ist als
Entäußerung seiner Spontaneität und Produktivität seine gesamte Welt,
wie sie sich in verschiedenen Medien der symbolischen Gestaltung erst
verwirklicht - und ihm etwas bedeutet. Der Mensch ist das animal
symbolicum, das symbolerzeugende Lebewesen. |
Entscheidend ist dabei, daß Cassirer einen sehr weitgefaßten,
elementaren Begriff von Symbolisierung hat. Der Ansatz unterscheidet
sich ausdrücklich von jedem spezifisch kunsthistorischen oder
literaturwissenschaftlichen Verständnis der Symbole und ist gerade
durch seine Allgemeinheit für jedes spezifische Verständnis
anschlußfähig; Cassirers Symbolbegriff hat den grundlegenden Sinn, uns
klarzumachen, daß für uns aufgrund der geistigen Produktivität, die
unsere Gattung auszeichnet, im Prinzip alles zum Träger von Bedeutung
werden kann: Ein Symbol liegt in jeder Art von »Sinnerfüllung des
Sinnlichen«, und die regelmäßigen und typischen Arten dieser
Sinnerfüllung nennt Cassirer symbolische Formen. |
Im Kontext der Philosophie der symbolischen Formen, die in drei Bänden
1923, 1925 und 1929 erschienen ist, behandelt Cassirer als solche
typischen Formen menschlicher Kulturerzeugung ausdrücklich die
Sprache, den Mythos und die Religion, die Wissenschaft und die Kunst,
schließlich die Geschichte, die Technik und die Wirtschaft. Und es
gehört zu den spannenden Fragen der Forschung, inwiefern es ihm
gelungen ist, auch die Moral und das Recht, diese kulturellen Systeme
der normativen Orientierung, im Ganzen der symbolischen Formen
angemessen zu repräsentieren. |
Jedenfalls erforscht Cassirer die Geschichte und die Eigenart aller
dieser Formen, in denen sich die Kultur zum systemischen Kontext der
menschlichen Wirklichkeit entfaltet, und es ist nicht allein die
Schmiegsamkeit seines symboltheoretischen Ansatzes, die ihn
anschlußfähig macht für die Sichtweise aktueller zeichentheoretischer
Entwürfe. Durch die methodische Sonderstellung, die in seinem
Systementwurf der Sprache zukommt, ist Cassirer auch ein
ernstzunehmender Gesprächspartner für die Theorien nach der
sprachphilosophischen Wende. Durch die Begründung der kulturellen
Symbolerzeugung im menschlichen Bewußtsein, das sich Cassirer selbst
als einen Zusammenhang elementarer Symbolisierung vorstellt, wird er
interessant in dem Kontext gegenwärtiger Debatten, in dem es um die
Verabschiedung oder die Rehabilitierung eines
repräsentationalistischen Bewußtseinsbegriffs geht. Und eine der
Pointen seiner Theorie, die ihn ebenfalls als Zeitgenossen unserer
heutigen Fragen qualifiziert, liegt darin, daß er das Problem der
Pluralität der Kulturen grundlegend begreiflich macht, indem er
diejenige Pluralität zu ermessen sucht, die jede Kultur als solche
immer schon ist, und ohne daß er sich dabei von der Frage nach der
Einheit in dieser Vielheit abbringen läßt. |
Diese Einheit sieht Cassirer in einer funktionalen Gemeinsamkeit, in
der Funktion der Befreiung, die allen Formen menschlicher Kultur
gleichermaßen zukommt. Und dies führt direkt auf die
subjektphilosophische und zwar genauer gesagt die Kantianische
Prämisse, an der Cassirer festhält. Er erklärt zwar von Anfang an
programmatisch, es gälte die Kritik der Vernunft zu transformieren in
eine Kritik der Kultur in ihrer ganzen Vielfalt - doch die mit Kants
Kopernikanischer Wende verbundene Auffassung, daß alle unsere
Wirklichkeit nur zu verstehen ist als Wirkung unserer geistigen
Leistung, will er gerade mit seiner Analyse der Kultur ausdrücklich
bestätigen, indem er sie diversifiziert. Entscheidend ist somit für
seine Theorie der Ansatz bei der schöpferischen menschlichen
Spontaneität. Jede kulturelle Form verdankt sich, so sagt Cassirer,
einer »ursprüngliche[n] Tat des Geistes« (PhsF I, 43). Und das
Entscheidende: Diese Spontaneität ist in ihren artikulierten Formen
immer als eine Weise der produktiven Selbstbestimmung und darin
ausdrücklich als Freiheit gefaßt. Die kulturellen Formen sind, wie
Cassirer immer wieder einschärft, Formen der Befreiung vom bloßen
Eindruck zum artikulierten Ausdruck (PhsF I, 12), von der Befangenheit
im bloß Sinnlichen durch die geistige Aktivität und Produktivität der
Sinngebung. In allen äußert sich »die Freiheit des geistigen Tuns« (PhsF
I, 43) - in jeder auf eine besondere Weise. Kultur ist »der Prozeß der
fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen« (VM 345). Sie kann dies
sein, weil die symbolische Vermittlung durch die mediale Distanzierung
im Maße ihrer Artikuliertheit auch Verfügung über Verhältnisse
gewährt. Das heißt allgemein gefaßt: Die gesamte Kultur wird somit zu
einem vielgestaltigen Projekt der menschlichen Selbstbestimmung. Alle
Kultur ist Form der Freiheit. Es ist letztlich dieser elementare Bezug
auf den Begriff der Freiheit, durch den Cassirer das Wesentliche über
den Menschen sagen will - über den Menschen und seine Chance, mehr zu
sein als bloß irgendein sterbliches Lebewesen. Es ist unverkennbar,
daß durch eine solche Beschreibung eine grundsätzlich positive
Bewertung der menschlichen Kultur überhaupt zur Geltung gebracht wird:
Vermittels des Freiheitsbegriffs sagt der Theoretiker indirekt: Es ist
gut, daß dies geschieht. Und in dieser Stellungnahme wird deutlich,
daß bei Cassirer die gesamte Kultur ethisch zu verstehen ist. |
Es kann uns nicht überraschen, daß ein Denker, der den Begriff der
Freiheit derart seiner gesamten Theorie der menschlichen Wirklichkeit
zugrundelegt, auf Freiheit auch im engeren politischen Verständnis
wert legt. Wir finden in Cassirer denn auch insofern einen gänzlich
untypischen Vertreter der Gelehrtenzunft im ausgehenden Kaiserreich
und der Weimarer Republik, als er sich nicht nur unter anderem auch
engagiert mit den Problemen der politischen Theorie auseinandergesetzt
hat, sondern zugleich ein wachsamer politischer Zeitgenosse von großer
Geistesgegenwart und Urteilskraft war. Einen ausgeprägten
weltbürgerlichen Sinn für die politische Kultur zeigt bereits der
Autor von Freiheit und Form, der sich 1916 - mitten im Ersten
Weltkrieg - als Europäer exponiert, indem er die geistesgeschichtliche
Kontinuität des deutschen, italienischen und französischen Denkens
seit der Renaissance aufweist. Jeder, der auch nur eine Ahnung von der
herrschenden Stimmung jener Zeit hat, wird erkennen, welcher Akt der
Zivilcourage in einer solchen philosophischen Integration Europas
liegt. Ein exemplarischer Vorgang, der sich in seinen Schriften von
mehr oder weniger direkter politischer Bedeutung noch mehrfach
wiederholen sollte. Den politischen Impetus zur Erinnerung und
Bestärkung einer europäischen Kultur verfolgt Cassirer auch
ausdrücklich in einem kleinen und scheinbar nebensächlichen, aber als
Dokument aus finsteren Zeiten höchst bedeutsamen Text, der erst seit
kurzem wieder publizistisch zugänglich ist: in der Rede, die er hier
im Hamburger Senat 1928 zur Feier des zehnten Jahrestags der deutschen
Verfassung gehalten hat: Die Idee der republikanischen Verfassung. Die
Rede ist ausdrücklich gegen die völkischen und antidemokratischen
Bewegungen jener Zeit gerichtet, die in der Demokratie eine westliche
Eigentümlichkeit sehen wollen, welche dem deutschen Nationalwesen
fremd wäre. Cassirer zeigt hier durch die ideengeschichtliche
Genealogie des modernen Verfassungsgedankens und der damit verbundenen
Idee vom unveräußerlichen Naturrecht des Individuums, daß es deutsche
Philosophen waren - Leibniz und Wolff, die mit der Idee der Freiheit
und der gleichen Rechte in maßgeblicher Weise die Befreiungsbewegungen
des 18. Jahrhunderts in Amerika und in Frankreich beeinflußt haben.
Und die These besagt noch mehr: Ein wesentliches Merkmal des deutschen
Denkens, das auf diese Weise in Kontinuität mit dem der anderen
europäischen Nationen gerückt wird, wäre demnach gerade der allen
Nationalismus übersteigende universalistische Impetus der hier
entwickelten Ideen. Cassirer gibt sich damit auch selbst als
Verfechter der allgemeinen Menschenrechte zu erkennen: Und auf diese
Weise artikuliert er sich in einer Zeit, in der der Verfassungsgedanke
und mit ihm der Parlamentarismus bereits in der Krise waren,
nachdrücklich als ein vom europäischen Gedanken durchdrungener
Verfassungsdemokrat. |
Und ein weiteres Mal sollte sich der Vorgang der philosophischen
Integration Europas wiederholen in seiner großen Monographie über die
Philosophie der Aufklärung, wo er auch die Bewegung der
Vernunftaufklärung des 18. Jahrhunderts über die nationalen und
regionalen Grenzen hinweg als ein europäisches Projekt beschreibt.
Dieses Buch, das seit einigen Tagen in einer neuen Ausgabe wieder
allgemein zugänglich ist, charakterisiert übrigens ebenso wie die
gelehrten Studien zum Humanismus der Renaissance Cassirers
philosophisches wie politisches Profil. Der Erkenntnis und
vernünftigen Einsicht verpflichtet, liberal und tolerant, mit einem
Wort ein Aufklärer ist Cassirer zeit seines Lebens gewesen - ein
Aufklärer, der sich auch durch eine Dialektik der Aufklärung nicht von
der Einsicht hätte abbringen lassen, daß doch die Vernunft, so wenig
sie bei aller Bedrohtheit und Zerbrechlichkeit auch ausrichten kann,
schließlich alles ist, worauf wir uns überhaupt verlassen können. |
Alle diese selbständigen Studien, die ich Ihnen mit dieser Skizze in
Erinnerung gerufen habe, sind nicht nur Dokumente einer umsichtigen
Gelehrsamkeit in den Gebieten, die sie jeweils bearbeiten - sie stehen
auch auf einem soliden Sockel der Auseinandersetzung mit den
Wissenschaften, den Naturwissenschaften. Anders als bei Wilhelm
Dilthey in seiner methodischen Grundlegung der Geschichtswissenschaft
steht bei Cassirer die Begründung der Kulturwissenschaft nicht allein
auf geisteswissenschaftlichen Fundamenten. Und darin liegt zuletzt ein
großer Vorzug dieses systematischen Ansatzes - daß er aus profunder
Kenntnis die Naturwissenschaft in sein System der Kultur zu
integrieren vermag und auf diese Weise die Rede von den zwei Kulturen
schon überholt hat, bevor sie überhaupt aufkam. Wie souverän sich
Cassirer in der ontologisch-metaphysischen, in der
erkenntnistheoretischen und in der naturwissenschaftlichen Tradition
bewegte, das läßt sich ganz besonders gut an den Schriften aus dem
ersten und zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts studieren, mit denen
wir entspechend der Werk-Chronologie auch in unserer Hamburger Ausgabe
den Auftakt geben. Die großen Monographien zum Erkenntnisproblem, mit
denen sich der junge Marburger Gelehrte schon bald im Kreis seiner
Berliner Kollegen einen Namen als der »Erkenntnis-Cassirer« machen
konnte, aber auch schon die erste selbständige Schrift über Leibniz'
System, auf die ich aus dem Anlaß ihres baldigen Erscheinens gerade
schon hingewiesen habe, zeichnen ihn als einen Kenner der
philosophischen und naturwissenschaftlichen Tradition aus. |
Lange Zeit war das Werk Ernst Cassirers nahezu völlig in Vergessenheit
geraten, und insbesondere in Deutschland, das Cassirer mit seiner
Familie unter dem Druck der politischen Verhältnisse schon im Frühjahr
1933 verlassen hatte, gehörte nach dem Krieg in der Situation einer
gewaltsam unterbrochenen Wirkungsgeschichte offenbar ein sehr
eigenwilliges Leseverhalten und eine sehr selbständige Urteilskraft
dazu, um wiederzuentdecken, was wir an diesem Werk haben. Der
politische Emigrant Cassirer hat auf diese Weise im Grunde das
Schicksal einer doppelten Vertreibung erlitten - einer, die seiner
Person galt und einer anderen, die darin besteht, daß sein Werk seit
den dreißiger Jahren und bis heute neben den maßgeblichen Positionen
der deutschen Nachkriegsphilosophie im Schatten steht, neben den
Auseinandersetzungen um Heidegger und die hermeneutische Schule, um
Wittgenstein und den linguistic turn, um die kritische Theorie der
Frankfurter Schule, den kritischen Rationalismus und die
Strukturalismen aller Art. Bis Anfang der 90er Jahre galt Cassirer der
großen Mehrheit der Kollegen in der Philosophie als einer von diesen
Neukantianern, und man wußte, was von dieser abstrakten und in der
akademischen Dominanz seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts steril
gewordenen Richtung zu halten war. Dabei hatte Cassirer schon recht
früh in seiner philosophischen Entwicklung aufgehört, ein Neukantianer
im üblichen Verständnis des Begriffs zu sein. Aber sein selbständiges
Werk war nur einer kleinen Schar von Lesern und Interpreten wirklich
bekannt, und es mußte offensichtlich erst das Jubiläumsjahr 1995 mit
dem 50. Todestag kommen. Mit der jubiläumsüblichen, in diesem Fall
einmal wohltätigen Inflation an philosophischen und
geisteswissenschaftlichen Interpretationen, an universitären,
publizistischen wie editorischen Initiativen beginnt sich das Blatt
seither zu wenden, es sieht so aus, als ließe sich eine
Ungerechtigkeit der Rezeptionsgeschichte auch wiedergutmachen: Auch
ein größeres akademisches Publikum ist inzwischen auf das Werk dieses
humanistischen Gelehrten aufmerksam geworden. In diesem Zusammenhang
hat unlängst Jürgen Habermas den Philosophen Cassirer als den letzten
Universalgelehrten dieses Jahrhunderts entdeckt und gewürdigt, und das
Urteil ist gewiß einseitig, aber nicht falsch. |
Zur Illustration von Cassirers eindrucksvoller Gelehrsamkeit darf ich
Ihnen zum Schluß meiner Ausführungen eine Freudsche Fehlleistung
wiedergeben, die den Mitarbeitern der Ernst Cassirer Arbeitsstelle bei
unseren zahlreichen Arbeitsbesprechungen wiederholt unterlaufen ist
und der man wahrlich einen objektiven Aufschlußwert bescheinigen kann:
Ernst Cassirer, der umfassend gebildete Gelehrte, der seinen eigenen
Ansatz ganz in die Auseinandersetzung mit der Tradition und mit den
zeitgenössischen Theorien eingearbeitet hat, Ernst Cassirer bedient
den Leser in der Darstellung seiner Theorie in einem fort mit Zitaten
aus den Zusammenhängen seiner Gewährsautoren. Keine Frage, daß die
Lektüre seiner Werke auch aus diesem Grunde so ertragreich ist. Man
lernt eine Menge von diesem Autor. Keine Frage aber auch, daß die
Sicherung, das heißt die Prüfung und Korrektur dieser unzähligen
Zitate auch mit einem enormen Aufwand an Recherche und Lektüre
verbunden sind. Unsere Mitarbeiter werden Ihnen ja gleich ein wenig
aus der Arbeit an der Edition berichten. Kein Wunder, daß sie bei
dieser vielen Mühe im Dienste von Cassirers Zitaten im Eifer unserer
Besprechungen dann immer wieder einmal unversehens von »Zitierer«
anstatt von »Cassirer« sprechen - ein Versprecher, der bei uns
zwischenzeitlich zum Bonmot geworden ist. Aber -, auch wenn damit in
der Tat eine der großen Qualitäten dieses Denkers getroffen ist - an
Cassirer haben wir mehr als einen Gelehrten. Er hat uns ein reiches
Werk nicht allein als Historiker der Philosophie, als kenntnisreicher
und umsichtiger Interpret der Tradition in ihrer ganzen Breite
hinterlassen - er gehört zu den großen Denkern dieses Jahrhunderts,
und sein eigener systematischer Ansatz bietet einen Reichtum an
Anknüpfungsmöglichkeiten, den wir gerade erst zu ermessen beginnen.
Mit der Hamburger Ausgabe wollen wir die Grundlage dafür schaffen, daß
es auch für das Werk dieses Philosophen möglichst bald die
eingespielten Überlieferungsverhältnisse gibt, auf die jeder Klassiker
einen legitimen Anspruch hat. | |